Vortioxetin
- Autor(en): Urspeter Masche
- pharma-kritik-Jahrgang 38
, Nummer 10, PK1005
Redaktionsschluss: 27. Januar 2017
DOI: https://doi.org/10.37667/pk.2016.1005 - PDF-Download der Printversion dieser pharma-kritik Nummer
Vortioxetin (Brintellix®) wird zur Behandlung von Depressionen empfohlen.
Chemie/Pharmakologie
Vortioxetin, chemisch ein Arylpiperazin, ist ein serotoninerges Antidepressivum, dessen pharmakologische Eigenschaften jedoch über diejenigen von klassischen Serotonin-Wiederaufnahmehemmern hinausgehen. Es blockiert nicht nur den Serotonintransporter – womit die Serotoninwiederaufnahme gebremst wird –, sondern beeinflusst auch direkt verschiedene Rezeptoren von Serotonin (5-Hydroxytryptamin = 5-HT). So wirkt Vortioxetin am 5-HT1A-Rezeptor als Agonist, am 5-HT1B-Rezeptor als partieller Agonist und am 5-HT1D-, 5-HT3- sowie 5-HT7-Rezeptor als Antagonist. Dadurch wird gemäss experimentellen Untersuchungen nicht nur die extrazelluläre Konzentration von Serotonin erhöht, sondern auch der Stoffwechsel von Noradrenalin, Dopamin, Acetylcholin, Histamin, Glutamat und Gamma-Aminobuttersäure (GABA) verändert. Wegen dieser verschiedenartigen Effekte wird Vortioxetin als multimodales Antidepressivum hervorgehoben. Ausserdem soll Vortioxetin anxiolytisch wirken und kognitive Funktionen verbessern können.(1,2)
Pharmakokinetik
Nach Einnahme von Vortioxetin dauert es zwischen 7 und 11 Stunden, bis der maximale Plasmaspiegel gemessen wird. Die biologische Verfügbarkeit erreicht 75%. Die Resorption wird durch Nahrungsmittel nicht beeinflusst. Wichtigster Abbauweg ist die Oxidation zum pharmakologisch nicht aktiven Metaboliten M0 (Lu AA34443); diese Umwandlung findet hauptsächlich über CYP2D6 statt. Andere Zytochrome (CYP2A6, CYP2B6, CYP2C8, CYP2C9, CYP2C19 und CYP3A4/5) sind am Metabolismus ebenfalls beteiligt. Verglichen mit normaler CYP2D6-Aktivität («extensive metabolism»), beobachtete man bei verminderter CYP2D6-Aktivität («poor metabolism») eine Zunahme der Vortioxetin-Exposition um ungefähr das Doppelte und bei sehr starker CYP2D6-Aktivität («ultrarapid metabolism») eine Abnahme um ungefähr ein Drittel. Die Ausscheidung der Metaboliten geschieht zu etwa zwei Dritteln über den Urin, der Rest wird mit dem Stuhl eliminiert. Die terminale Halbwertszeit von Vortioxetin beträgt 60 bis 70 Stunden. Weder bei Leber- noch bei Niereninsuffizienz konnte eine bedeutsame Veränderung der Clearance dokumentiert werden; Personen mit schwerer Leberinsuffizienz sind bislang allerdings nicht untersucht worden.(1,2)
Klinische Studien
Zu Vortioxetin liegen gut ein Dutzend Doppelblindstudien vor. Alle zählten ein Kollektiv von mehreren hundert erwachsenen Personen, die seit mindestens 3 Monaten an einer mittelschweren bis schweren depressiven Störung litten. Mehrheitlich handelte es sich um Placebovergleiche, die sich über 6 bis 8 Wochen erstreckten. Die verwendeten Vortioxetin-Dosen lagen zwischen 1 und 20 mg/Tag. Primärer Endpunkt war die Verbesserung der depressiven Symptome, erfasst mit Fragebögen wie der «Montgomery-Åsberg Depression Rating Scale» (MADRS; von 0 bis 60 Punkte reichend) oder der «Hamilton Rating Scale for Depression» (HAMD-24; von 0 bis 75 Punkte reichend).
In mehreren Metaanalysen liess sich zeigen, dass Vortioxetin den primären Studienendpunkt (MADRS oder HAMD-24) signifikant besser beeinflusst als Placebo. Eine dieser Metaanalysen zum Beispiel lieferte als Effektgrösse einen Wert von 0,22 (95% CI 0,12–0,31) zugunsten von Vortioxetin (ein Resultat zwischen 0,2 und 0,5 ist als kleine bis mittlere Effektgrösse einzustufen). Auch die Anzahl der Patientinnen und Patienten, die von der Behandlung profitierten, war unter Vortioxetin höher als unter Placebo: bezogen auf ein Ansprechen (definiert als mindestens 50%ige Besserung der Symptome) errechnete man eine «Odds Ratio» von 1,7 (1,3–2,1) bzw. eine «Number Needed to Treat» von 7 (6–9), bezogen auf eine Remission (definiert als Reduktion der MADRS-Punktezahl auf ≤ 10), eine OR von 1,4 (1,1–1,8) bzw. eine NNT von 11 (8–17).(3,4)
Betrachtet man die Studien einzeln, zeigte sich für Vortioxetin in zwei Dritteln der Fälle eine signifikant bessere Wirkung als für Placebo, wobei ein solcher Unterschied zum Teil nur bei der höchsten verwendeten Dosis (20 mg/Tag) zu sehen war. In den restlichen Untersuchungen bestand im Vergleich zu Placebo kein Unterschied.(5) Auffallend war zudem, dass kein klarer dosisabhängiger Effekt zu erkennen war. Namentlich die 2,5-mg- und die 15-mg-Dosis wirkten nicht signifikant besser als Placebo.(6,7)
Auch Vergleiche mit anderen Antidepressiva haben stattgefunden. 493 Personen, die auf einen Serotonin- oder Serotonin-/Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer nicht genügend angesprochen hatten, erhielten entweder Vortioxetin (10 bis 20 mg/Tag) oder Agomelatin (Valdoxan®, 25 bis 50 mg/Tag). Innerhalb von 8 Wochen sank die MADRS-Punktezahl unter Vortioxetin signifikant mehr (von 29,1 auf 12,6) als unter Agomelatin (von 28,7 auf 14,3).(8) In einer anderen Studie verabreichte man 424 Personen Vortioxetin (10 mg/Tag) oder retardiertes Venlafaxin (Efexor® ER u.a., 150 mg/Tag). Nach 8-wöchiger Behandlung hatten beide Medikamente depressive Symptome gleichermassen verbessert, so dass für Vortioxetin das Nichtunterlegenheits-Kriterium als erfüllt galt.(9)
Gut die Hälfte der oben erwähnten Placebovergleiche umfassten eine zusätzliche Behandlungsgruppe, in der ein zweites Antidepressivum verschrieben war; in 6 Studien handelte es sich um Duloxetin (Cymbalta®u.a., 60 mg/Tag), in 1 Studie um Venlafaxin (225 mg/Tag). Diese zusätzlichen Antidepressiva erfüllten lediglich «Referenzzwecke» und waren nicht für einen Eins-zu-eins-Vergleich mit Vortioxetin vorgesehen. Trotzdem sind gewisse Schlüsse möglich, indem man die Daten in Metaanalysen zusammengefasst hat. Insbesondere gewinnt man den Eindruck, dass Duloxetin tendenziell eine höhere Ansprech- und Remissionsrate verspricht als Vortioxetin.(6,10)
Nur eine kontrollierte Studie liefert Daten zu einer etwas längeren Verabreichungsdauer. 396 Personen, bei denen man mit einer 12-wöchigen Vortioxetin-Gabe eine Remission erzielt hatte, wurden doppelblind mit Vortioxetin weiterbehandelt oder auf Placebo umgestellt. Nach Ablauf von 24 Wochen waren Rückfälle (MADRS-Punktezahl ≥ 22) in der Placebogruppe signifikant häufiger bzw. rascher aufgetreten als in der Vortioxetin-Gruppe («Hazard Ratio» = 2,0).(11) Weitere Erfahrungen zu einem längerfristigen Einsatz beschränken sich auf offen und ohne Kontrollgruppen durchgeführte 1-Jahres-Studien (Fortsetzungen von Placebovergleichen), die vor allem dazu gedient haben, die Verträglichkeit von Vortioxetin zu dokumentieren.(12)
Unerwünschte Wirkungen
Als häufigste Nebenwirkungen von Vortioxetin wurden Übelkeit, Erbrechen, Verstopfung, Durchfall, Kopfschmerzen und Schwindel angegeben. Auch über Nasopharyngitis, Mundtrockenheit, Schläfrigkeit und Juckreiz wurde berichtet. Sexuelle Störungen sind vor allem in höherer Dosierung vorgekommen.(1,2) Vortioxetin scheint wie andere Antidepressiva bei Personen mit einer bipolaren Erkrankung eine manische Episode begünstigen zu können.(13) Wegen der langen Halbwertszeit wird das Auftreten von Entzugserscheinungen, wenn Vortioxetin jäh gestoppt wird, als wenig wahrscheinlich betrachtet. Dennoch sind einzelne Personen bekannt, die nach abruptem Absetzen einer höheren Tagesdosis (15 oder 20 mg/Tag) über Stimmungsschwankungen, Angstzustände, Kopfschmerzen, Schwindel, Muskelverspannungen und Nasenlaufen geklagt haben.(2)
Interaktionen
Starke CYP2D6-Hemmer können die Vortioxetin-Exposition mehr als verdoppeln; die Hemmung anderer Zytochrome wirkt sich weniger massiv aus. Zytochrominduktoren wie zum Beispiel Rifampicin können die Vortioxetin-Exposition um rund 70% senken.
Die Kombination mit anderen serotoninergen Substanzen (Antidepressiva, Tramadol [Tramal® u.a.], Triptane, Johanniskraut u.a.) beinhaltet das Risiko eines Serotonin-Syndroms. Wie andere serotoninerge Substanzen beeinflusst Vortioxetin möglicherweise die Blutgerinnung, was zu beachten ist, wenn gleichzeitig gerinnungs- oder plättchenhemmende Medikamente verordnet sind.(1,2)
Dosierung, Verabreichung, Kosten
Vortioxetin (Brintellix®) ist als Tabletten zu 5, 10 und 20 mg und als 2%ige Tropflösung erhältlich. (Die Tabletten haben eine tropfenförmige Spezialform, vermutlich auch, um kostengünstiges Teilen zu verhindern.) Vortioxetin ist zugelassen zur Behandlung einer klinisch relevanten depressiven Erkrankung («Major Depression»). Die empfohlene Anfangsdosis beträgt 10 mg/Tag, für ältere Personen 5 mg/Tag; je nach Ansprechen ist im Verlauf eine Verdopplung der Startdosis zu erwägen. Die Kombination mit Zytochromhemmern oder -induktoren bedarf unter Umständen ebenfalls einer Dosisanpassung. Bei Personen mit schwerer Leberinsuffizienz sollte Vortioxetin nur unter Vorsicht eingesetzt werden. Die Verabreichung von Vortioxetin mit anderen Antidepressiva ist nicht untersucht, die Kombination mit MAO-Hemmern kontraindiziert. Bei Kindern und Jugendlichen sowie schwangeren und stillenden Frauen sollte Vortioxetin mangels Daten nicht verschrieben werden. Wenn man höherdosiertes Vortioxetin (mehr als 10 mg/Tag) absetzen will, sollte laut amerikanischer Fachinformation vor dem definitiven Stopp während einer Woche eine «Ausschleichdosis» von 10 mg/Tag eingeplant werden.
Vortioxetin ist kassenpflichtig; die Tabletten kosten je nach Dosis CHF 44.45 bis 82.05 pro Monat und sind damit deutlich teurer als andere Antidepressiva; so beträgt der Monatspreis für die billigste Variante bei Citalopram (Original: Seropram®, 20 mg pro Tag) CHF 22.35, bei Duloxetin (60 mg/Tag) CHF 33.70 und bei Venlafaxin (75 bis 150 mg/Tag) CHF 18.40 bis 28.35.
Kommentar
Vortioxetin ist eine Substanz mit einem umfangreichen Studiendossier. Gerade deshalb lässt sich die Bewertung der amerikanischen FDA nicht vom Tisch wischen, dass es sich bei Vortioxetin vornehmlich um einen Serotonin-Wiederaufnahmehemmer handelt und dass die zusätzliche Wirkung an spezifischen Rezeptoren klinisch keine nennenswerte Rolle spielt.(14) Diese Einschätzung entspricht der Beobachtung, dass Vortioxetin zu ähnlichen Nebenwirkungen führt wie die klassischen Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, mit der Übelkeit als einem der typischen Probleme. Als praktisch gesichert darf man es betrachten, dass Vortioxetin nicht wirksamer ist als andere Antidepressiva wie Duloxetin oder Venlafaxin, die häufig verschrieben werden. Somit fühlt man sich nicht veranlasst, Vortioxetin unter den bereits zahlreich vorhandenen Antidepressiva in den Vordergrund zu rücken, umso mehr als es auch preislich nicht als attraktives Produkt beeindruckt.
Literatur
- 1) EMA-Dokument: http://pkweb.ch/2ku3YDf
- 2) Gibb A, Deeks ED. Drugs 2014; 74: 135-45
- 3) Pae CU et al. J Psychiatry Neurosci 2015; 40: 174-86
- 4) Citrome L. Int J Clin Pract 2014; 68: 60-82
- 5) Alvarez E et al. Neuropsychiatr Dis Treat 2014; 10: 1297-307
- 6) Meeker AS et al. Syst Rev 2015; 4: 21
- 7) Thase ME et al. Eur Neuropsychopharmacol 2016; 26: 979-93
- 8) Montgomery SA et al. Hum Psychopharmacol Clin Exp 2014; 29: 470-82
- 9) Wang G et al. Curr Med Res Opin 2015; 31: 785-94
- 10) Li G et al. Clin Drug Investig 2016; 36: 509-17
- 11) Boulenger JP et al. J Psychopharmacol 2012; 26: 1408-16
- 12) Baldwin DS et al. J Psychopharmacol 2016; 30: 242-52
- 13) Maud C. Australas Psychiatry 2016; 24: 206-7
- 14) Thase ME. J Clin Psychiatry 2015; 76: e120-1
Standpunkte und Meinungen
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