Diäthylstilböstrol: Spätfolgen
- Autor(en): Etzel Gysling
- pharma-kritik-Jahrgang 32
, Nummer 15, PK817
Redaktionsschluss: 29. April 2011
DOI: https://doi.org/10.37667/pk.2010.817 - PDF-Download der Printversion dieser pharma-kritik Nummer
Diäthylstilböstrol (Diethylstilbestrol, DES) ist ein Östrogen, das 1938 synthetisiert und in der Folge bei verschiedenen Erkrankungen, insbesondere aber in der Schwangerschaft zur Verhütung von Fehlgeburten eingesetzt wurde. Diese (nicht auf adäquater Evidenz beruhende) Anwendung führte zu Problemen bei den Nachkommen, die in der Schwangerschaft DES-exponiert waren. Im April 2011 wurde nun im «New England Journal of Medicine» ein Abriss der DES-Geschichte veröffentlicht,(1) der im Folgenden kurz zusammengefasst ist.
DES wurde bis in die 1970er-Jahre «therapeutisch» verwendet, unter anderem als Substitution bei Östrogenmangel, zur Unterdrückung der Laktation und bei Prostata- und Mammakarzinom. Von besonderer Bedeutung ist jedoch die Verabreichung in der Schwangerschaft. Es wird geschätzt, dass mehrere Millionen ungeborener Kinder diesem Hormon exponiert waren. DES gelangte ausserdem während vielen Jahren als «wachstumsfördernder» Stoff im Futter oder subkutan implantiert bei verschiedenen Tierarten zum Einsatz.(2) 1971 wurde schliesslich der Zusammenhang zwischen der DES-Exposition in utero und dem Auftreten von vaginalen Adenokarzinomen bei jungen Frauen aufgezeigt.(3) Man schätzt heute, dass sich bei 1 von 1000 oder vielleicht nur von 10‘000 Frauen, die in der Schwangerschaft der Einwirkung von DES ausgesetzt waren, ein klarzelliges Adenokarzinom der Vagina entwickelt. Dieses manifestiert sich meistens im Alter zwischen 15 und 29 Jahren. Etwa 20% aller Frauen mit diesem Karzinom haben keine DES-Exposition in der Anamnese. Man kann deshalb vermuten, dass die Mütter dieser Frauen während der Schwangerschaft Fleisch mit einem relevanten DES-Gehalt zu sich genommen hatten.
Die Pathogenese der Karzinome hängt wahrscheinlich mit der DES-Einwirkung auf die embryonale Entwicklung der Müllerschen Gänge zusammen. DES ist der Prototyp der endokrin aktiven Stoffe («endocrine disrupting chemicals»); es führt zu einer Fehlbildung innerhalb des Vaginalepithels, verursacht eine «vaginale Adenose» und kann die Verbindung zwischen Uterus und Eileitern verunmöglichen. Im Laufe des letzten Jahrzehnts wurden von DES induzierte Veränderungen bestimmter Genfamilien, die für die Ausbildung der Geschlechtsorgane verantwortlich sind, identifiziert. Man nimmt an, dass dann die hormonale Umstellung in der Pubertät die malignen Veränderungen auslöst.
Frauen, die in utero DES-exponiert waren (sogen. DES-Töchter), haben rund doppelt so häufig Fehlgeburten wie solche, die keinem solchen Einfluss ausgesetzt waren. Auch bei DES-exponierten Söhnen können vereinzelt urogenitale Anomalien (Nebenhodenzysten, Kryptorchismus u.a.) beobachtet werden.(4)
Zur Frage, ob es bei DES-Töchtern auch in späteren Lebensjahren Probleme gebe, liegen widersprüchliche Daten vor. In einer niederländischen Untersuchung bei 12‘000 exponierten Frauen fanden sich über einen Zeitraum von gut 15 Jahren – mit Ausnahme des klarzelligen Adenokarzinoms – keine gehäuften Malignome.(5) Gemäss einer amerikanischen Arbeit ist dagegen das Brustkrebs-Risiko bei DES-Töchtern ähnlich hoch wie für Frauen, in deren nahen Verwandtschaft Brustkrebsfälle aufgetreten sind.(6)
Unklar ist auch noch, ob die Nachkommen von DES-Töchtern – also Frauen der sogen. dritten Generation – allenfalls auch noch mit erhöhten Risiken rechnen müssen. In einer Untersuchung gab es Hinweise auf häufigere kardiale Fehlbildungen, die besonders bei den Töchtern gehäuft erschienen. Ein Zusammenhang mit DES gilt jedoch als ungesichert.(7)
Kommentar
Wenn man bedenkt, dass die Thalidomid-Katastrophe bereits zu Beginn der 60er-Jahre geschah, so überrascht zunächst, dass schwangere Frauen noch bis in die 70er-Jahre DES erhielten. Dies lässt sich jedoch leicht erklären: im Gegensatz zur Thalidomid-Exposition, deren Folgen schon bei der Geburt sichtbar sind, werden die Folgen der DES-Exposition erst nach 15 bis 20 Jahren manifest. Man ist heute bei schwangeren Frauen gewiss viel vorsichtiger geworden. Dennoch müssen wir grundsätzlich bei allen medikamentös Behandelten – nicht nur bei Schwangeren – mit der Möglichkeit rechnen, dass später, Zeitbomben-ähnlich, unerwartete Probleme auftreten. Diese gemeine Art von Nebenwirkung fürchte ich besonders bei Medikamenten, die sehr lange im Körper verweilen (Beispiel: Bisphosphonate).
Literatur
- 1) Goodman A et al. N Engl J Med 2011 (20. April); online ahead of print
- 2) Raun AP, Preston RL. American Society for Animal Science 2002; online: www.asas.org/Bios/Raunhist.pdf
- 3) Herbst AL et al. N Engl J Med 1971; 284: 878-81
- 4) Palmer JR et al. Environ Health 2009; 18: 8:37
- 5) Verloop J et al. Cancer Causes Control 2010; 21: 999-1007
- 6) Palmer JR et al. Cancer Epidemiol Biomarkers Prev 2006; 15: 1509-14
- 7) Titus-Ernstoff L et al. Int J Androl 2010; 33: 377-84
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