pharma-kritik
Warum nicht ein Placebo? (ohne Passwort zugänglich)
- Autor(en): Etzel Gysling
- pharma-kritik-Jahrgang 37
, Nummer 10, PK972
Redaktionsschluss: 12. Januar 2016
DOI: https://doi.org/10.37667/pk.2015.972
Nicht sehr erfreut mussten wir kürzlich zur Kenntnis nehmen, dass Paracetamol (Dafalgan® u.a.) bei Hüft- und Kniegelenkarthrosen wie auch bei akuten Lumbalgien kaum oder gar nicht wirksamer ist als ein Placebo.(1,2) Ob das in den letzten Jahren so beliebte Metamizol (Novalgin® u.a.) besser abschneiden würde, ist mehr als fraglich. Metamizol verfügt ja allgemein über eine sehr bescheidene "Evidenzbasis", die sich vorwiegend auf den Vergleich von Einzeldosen stützt.(3) Gemäss den vorliegenden (spärlichen) Daten ist oral verabreichtes Metamizol jedenfalls ähnlich wirksam wie Paracetamol (4) - aber will das überhaupt jemand wissen?
Nun weiss man aber, dass Placebos und Placeboeffekte in der Therapie keineswegs bedeutungslos sind.(5) Die Evidenz, ein Mittel sei ähnlich wirksam wie ein Placebo, ist zweifellos im Bereich der Symptombehandlung anders zu werten als wenn es darum geht, lebensbedrohliche Krankheitsfolgen zu verhindern - ich erinnere nur an die manchmal propagierte homöopathische Therapie einer Malaria, die einen schwerwiegenden Kunstfehler darstellt.
Bei einer Schmerzbehandlung ist es dagegen aus meiner Sicht durchaus zulässig, möglichen unerwünschten Wirkungen ein grösseres Gewicht zuzuordnen als der - z.B. mittels visueller Analogskalen nachgewiesenen - analgetischen Wirkung. Diese Überlegung gilt natürlich auch bei vielen anderen Symptomtherapien.
Dabei scheinen mir folgende Tatsachen wichtig: - Besonders zu neueren Pharmaka stehen uns oft vergleichsweise mehr Studien zur Verfügung als für Therapien mit "bescheidenerem" Werbebudget (ältere Medikamente, Physiotherapie, Verhaltenstherapie usw.). Eine gute "Evidenzbasis" lässt sich daher für die letzteren weniger gut (bzw. gar nicht) schaffen; dazu genügt ein Blick auf entsprechende Übersichten in der Cochrane Library. - Während erwünschte Wirkungen heute routinemässig in kontrollierten klinischen Studien evaluiert werden, bleiben die unerwünschten Wirkungen "Stiefkinder der Evidenz". Studien, die spezifisch der Untersuchung von unerwünschten Wirkungen dienen, werden zwar manchmal auf Verlangen der Arzneimittelbehörden durchgeführt, bleiben aber ein Aspekt, der weit weniger in den Vordergrund gerückt wird. Sind aber die nachweisbaren erwünschten Wirkungen gering (d.h. nähern wir uns dem Placeboniveau), so ist das Gewicht ungünstiger Auswirkungen grösser.
Wenn man berücksichtigt, welch mörderisches Ausmass das Problem der iatrogenen Opioidabhängigkeit in den USA heute einnimmt, dann wundert es nicht, dass sich dort auch Laienmedien Gedanken zu einer besseren Schmerzbehandlung machen. Ein lesenswerter Artikel in "The New York Times" propagiert denn auch, den Patientinnen und Patienten ein "honest placebo" vorzuschlagen, bevor riskantere Mittel eingesetzt werden.(6)
Ich denke, auch wir sollten uns vermehrt mit dieser Möglichkeit beschäftigen. Dabei ist es durchaus nicht so, dass Placeboeffekte verschwinden würden, wenn man jemandem sagt, dass z.B. ein Schmerzmittel "möglicherweise, aber nicht sicher" wirken wird. Eigentlich ist diese Aussage ja grundsätzlich immer zutreffend. Dabei ist es sicher wichtig, dass tatsächlich Mittel eingesetzt werden, die weitgehend problemlos sind, beispielsweise 500-mg-Tabletten von Paracetamol (nicht die höherdosierten, riskanteren 1-g-Tabletten). Ich bin überzeugt, dass wir für die meisten Symptome Therapien finden könnten, die vielleicht nicht über eine überzeugende "Evidenzbasis" verfügen, aber vergleichsweise gut verträglich sind.
Literatur
- 1) Machado GC et al. BMJ 2015; 350: h1225
- 2) Williams CM et al. Lancet 2014; 384: 1586-96
- 3) Kötter T et al. Plos One 2015; 10 : e0122918
- 4) Derry S et al. Cochrane Database Syst Rev 2010; (2): CD003227
- 5) Fässler M. Gnädinger M. pharma-kritik 2011; 33: 13-6 (pk843)
- 6) Marchant J. The New York Times 2016; Jan 9 (http://goo.gl/LCgdMd)
Standpunkte und Meinungen
- Es gibt zu diesem Artikel keine Leserkommentare.
Warum nicht ein Placebo? (ohne Passwort zugänglich) (12. Januar 2016)
Copyright © 2024 Infomed-Verlags-AG
Copyright © 2024 Infomed-Verlags-AG
pharma-kritik, 37/No. 10
PK972
PK972
Untertitel
Aktueller pharma-kritik-Jahrgang
Passwort beantragen
infomed mailings
Verwandte Artikel
29. November 2011
Placebo in der ärztlichen Praxis [pharma-kritik]
16. März 2015
Wie gefährlich darf die Therapie sein? (ohne Passwort zugänglich) [pharma-kritik]
5. November 2019
Was wissen wir über die Nebenwirkungen der Medikamente, die wir verschreiben? (kein Passwort) [pharma-kritik]
17. Februar 2023
Unerwünscht [pharma-kritik]
Gratisbuch bei einem Neuabo!
Abonnieren Sie jetzt die pharma-kritik und erhalten Sie das Buch «100 wichtige Medikamente» gratis. Im ersten Jahr kostet das Abo nur CHF 70.-.
pharma-kritik abonnieren
pharma-kritik abonnieren
-
Jahrgang 46 / 2024
Jahrgang 45 / 2023
Jahrgang 44 / 2022
Jahrgang 43 / 2021
Jahrgang 42 / 2020
Jahrgang 41 / 2019
Jahrgang 40 / 2018
Jahrgang 39 / 2017
Jahrgang 38 / 2016
Jahrgang 37 / 2015
Jahrgang 36 / 2014
Jahrgang 35 / 2013
Jahrgang 34 / 2012
Jahrgang 33 / 2011
Jahrgang 32 / 2010
Jahrgang 31 / 2009
Jahrgang 30 / 2008
Jahrgang 29 / 2007
Jahrgang 28 / 2006
Jahrgang 27 / 2005
Jahrgang 26 / 2004
Jahrgang 25 / 2003
Jahrgang 24 / 2002
Jahrgang 23 / 2001
Jahrgang 22 / 2000
Jahrgang 21 / 1999
Jahrgang 20 / 1998
Jahrgang 19 / 1997
Jahrgang 18 / 1996
Jahrgang 17 / 1995
Jahrgang 16 / 1994
Jahrgang 15 / 1993
Jahrgang 14 / 1992
Jahrgang 13 / 1991
Jahrgang 12 / 1990
Jahrgang 11 / 1989
Jahrgang 10 / 1988
Kennen Sie "100 wichtige Medikamente" schon?
Schauen Sie ein Probekapitel unseres Medikamentenführers an. Die Medikamente in unserem Führer wurden sorgfältig ausgesucht und konzentrieren sich auf die geläufigsten Probleme in der Allgemeinmedizin. Die Beschränkung auf 100 Medikamente beruht auf der Überzeugung, dass sich rund 90% aller allgemeinmedizinischen Probleme mit 100 Medikamenten behandeln lassen.
Die Liste der 100 Medikamente sehen Sie auf der Startseite von 100 Medikamente.
Die Liste der 100 Medikamente sehen Sie auf der Startseite von 100 Medikamente.