Multiple Sklerose: drei «neue» Medikamente
- Autor(en): Etzel Gysling
- pharma-kritik-Jahrgang 37
, Nummer 3, PK960
Redaktionsschluss: 15. Juni 2015
DOI: https://doi.org/10.37667/pk.2015.960 - PDF-Download der Printversion dieser pharma-kritik Nummer
Teriflunomid
Teriflunomid (Aubagio®) ist in der Schweiz im November 2013 zur oralen Behandlung der schubförmig remittierenden Multiplen Sklerose (MS) zugelassen worden.
Chemie/Pharmakologie
Teriflunomid (A771726) entspricht dem aktiven Metaboliten (M1) von Leflunomid (Arava® und andere). Die Wirkung des letzteren – bei rheumatoider Arthritis und Psoriasis-Arthritis – beruht auf Teriflunomid.(1)Dieses hemmt die Dihydroorotatdehydrogenase und beeinträchtigt so die Pyrimidinbiosynthese, was dem Medikament immunsuppressive Eigenschaften verleiht. Die Wirkung bei MS soll darauf beruhen, dass weniger aktivierte Lymphozyten ins Zentralnervensystem gelangen.
Pharmakokinetik
Nach oraler Aufnahme wird das Medikament offenbar gut resorbiert; in 1 bis 4 Stunden sind maximale Plasmaspiegel erreicht. Die biologische Verfügbarkeit ist jedoch nicht bestimmt worden. Der Metabolismus von Teriflunomid ist nur ungenau bekannt. Untersuchungen mit Leflunomid ergaben, dass Teriflunomid vorwiegend langsam mit dem Stuhl (vermutlich via Gallensekretion) ausgeschieden wird. Ein Teil des Medikamentes wird als Metaboliten im Urin ausgeschieden. In geringer Menge entsteht ein Nebenmetabolit, 4-Trifluormethylanilin, der möglicherweise karzinogene Eigenschaften hat. Die Plasmahalbwertszeit beträgt rund 20 Tage; die Ausscheidung kann durch die Verabreichung von Aktivkohle oder Colestyramin (Quantalan®) beschleunigt werden.
Klinische Studien
Teriflunomid wurde in zwei Doppelblindstudien mit Placebo verglichen. Erwachsene mit einer schubförmig verlaufenden MS wurden aufgenommen, unter der Voraussetzung, dass sie im Jahr vor der Studie mindestens einen MS-Schub (oder in zwei Jahren zwei Schübe) und einen Behinderungs-Score gemäss der Kurtzke’schen «Expanded Disability Status Scale» (EDSS) von höchstens 5,5 hatten. In der ersten dieser Studien – TEMSO – wurden 1‘088 Kranke in drei Gruppen während 108 Wochen mit Teriflunomid (7 mg/Tag oder 14 mg/Tag) oder Placebo behandelt. Die Resultate waren fast identisch für die beiden Teriflunomid-Dosierungen. Unter Teriflunomid betrug die Zahl der MS-Schübe pro Jahr durchschnittlich 0,37 und war damit signifikant kleiner als unter Placebo (0,54). Auch eine gemäss der EDSS während drei Monaten anhaltende Zunahme der Behinderung war mit rund 20% signifikant seltener unter Teriflunomid als unter Placebo (27%).(2) Die zweite Studie – TOWER – wurde grundsätzlich nach demselben Schema durchgeführt, hatte aber eine variable Dauer (min. 48 Wochen). Die Resultate von TOWER entsprechen weitgehend der TEMSO-Studie.(3) In diesen beiden Studien liess sich bezüglich einer sechs Monate anhaltenden EDSS-Verschlechterung kein signifikanter Unterschied zwischen Teriflunomid und Placebo feststellen.(4)
Unter der Bezeichnung TENERE wurde auch ein Vergleich zwischen Teriflunomid (7 oder 14 mg/Tag) und Interferon-beta-1a (dreimal wöchentlich 44 mcg, Rebif®) durchgeführt. Die 48-Wochen-Studie war offen, wobei die beurteilenden Fachleute in Unkenntnis der verabreichten Medikation waren. Die Behandlungsgruppen umfassten je 104 bis 111 Personen, die nach denselben Kriterien wie in den anderen Studien ausgelesen worden waren. Unter der 7-mg-Teriflunomid-Dosis war die Zahl der MS-Schübe pro Jahr signifikant grösser als unter Interferon-beta-1a. Zwischen der höheren Teriflunomid-Dosis und Interferon-beta-1a ergab sich kein signifikanter Unterschied; ein Therapieversagen trat jedoch auch in der 14-mg-Teriflunomidgruppe häufiger auf.(5) Diese Studie erlaubt aufgrund ihres Designs keine Aussage zur Frage nach der Überlegenheit der einen oder anderen Therapie.
Mit anderen verlaufsmodifizierenden Medikamenten ist Teriflunomid nicht verglichen worden.
Unerwünschte Wirkungen
Unter Teriflunomid ist mit einer ungewöhnlich grossen Zahl von unerwünschten Wirkungen zu rechnen, die weitgehend dem Toxizitätsprofil von Leflunomid entsprechen. Häufig oder sehr häufig sind insbesondere: Durchfall (bei 17% der Behandelten), Brechreiz (bei 14%), Haarausfall (bei 15%), Anstieg der Leberenzyme (bei 14%), Blutdruckanstieg, Leukopenie (besonders Neutropenie und Lymphopenie), Infektionen, allergische Hautreaktionen, periphere Neuropathien (Parästhesien, Dysästhesien). Auch eine Hyperkaliämie kann vorkommen, mit dem entsprechenden kardialen Risiko. Erfahrungen mit Leflunomid weisen ferner auf die Möglichkeit gefährlicher Leberschäden, von interstitiellen Pneumopathien und Nierenversagen hin. Im Tierversuch ist Teriflunomid teratogen.
Interaktionen
Vielfältige, aber klinisch bisher wenig dokumentierte Interaktionen werden vermutet. Zytochrom-Induktoren wie Rifampicin (Rimactan® u.a.) führen zu einer Abnahme der Teriflunomid-Spiegel. In welchem Ausmass eine längerfristige Antibiotika-Verabreichung den entero-hepatischen Kreislauf von Teriflunomid verändert, ist nicht genau bekannt. Teriflunomid kann CYP2C8 hemmen und damit die Wirkung z.B. von Repaglinid (Novonorm®) verstärken; anderseits scheint es CYP1A2 zu induzieren und so z.B. die Wirkung von Tizanidin (Sirdalud®) zu reduzieren. Weitere Interaktionen – u.a. mit oralen Antikoagulantien und Antibiotika – sind möglich.
Dosierung, Verabreichung, Kosten
Teriflunomid (Aubagio®) ist als Filmtabletten zu 14 mg erhältlich. Die Dosis von 14 mg kann bei schubförmig remittierender MS einmal täglich verabreicht werden. Vor Beginn der Behandlung müssen die Leberenzyme und das Blutbild untersucht werden; anschliessend sollen für 6 Monate monatlich und später alle 2 Monate die GPT und das Blutbild kontrolliert werden. Auch eine regelmässige Überwachung des Blutdrucks ist angezeigt. Kontraindiziert ist Teriflunomid bei Schwangeren, Stillenden, Personen unter 18 Jahren sowie solchen mit einer fortgeschrittenen Leberinsuffizienz. Bei Personen über 65 ist es nicht untersucht. Das Medikament ist kassenzulässig und kostet monatlich knapp 1‘790 Franken, d.h. etwas mehr als Interferon-beta-1a (CHF 1‘617) und etwas weniger als Dimethylfumarat (CHF 1‘975).
Dimethylfumarat
Dimethylfumarat (Tecfidera®) ist in der Schweiz im August 2014 zur oralen Behandlung der schubförmig remittierenden Multiplen Sklerose (MS) zugelassen worden.
Chemie/Pharmakologie
Dimethylfumarat ist ein Derivat der Fumarsäure, einer Dikarbonsäure, die in verschiedenen pflanzlichen und tierischen Geweben vorkommt. Die Fumarsäure und ihre Derivate werden schon seit den 1970er-Jahren zur Behandlung der Psoriasis eingesetzt, ohne dass ihr Wirkungsmechanismus je genau geklärt worden wäre.(6) Entsprechende Präparate wurden erstmals in der Schweiz entwickelt und in der Folge in Deutschland auf den Markt gebracht, wobei verschiedene Markennamen verwendet wurden; am bekanntesten ist wohl die Bezeichnung Fumaderm®. Heute wird propagiert, die Wirkung von Dimethylfumarat beruhe auf «einer Aktivierung eines zellulären Abwehrsystems gegenüber einer Vielzahl potentiell toxischer Stimuli». Es ist jedoch unklar, in welcher Weise so der Verlauf der Multiplen Sklerose beeinflusst würde.
Pharmakokinetik
Nach oraler Aufnahme von Dimethylfumarat ist die Substanz im Körper nicht nachweisbar, da sie schon im Magen-Darmtrakt durch Hydrolasen (z.B. Methylesterase) in Monomethylfumarat abgebaut wird. Letzteres entspricht dem aktiven Medikament, das dann weiter in Fumarsäure metabolisiert wird. Die Fumarsäure wird in den Zitronensäurezyklus aufgenommen und über die Atemwege als Kohlendioxid ausgeschieden. Um die gastro-intestinale Verträglichkeit zu verbessern, enthalten die Tecfidera®-Kapseln magensaftresistente Mikrotabletten. Maximale Plasmaspiegel von Monomethylfumarat werden etwa 2 Stunden nach der Einnahme des Medikamentes erreicht. Die Plasmahalbwertszeit von Monomethylfumarat beträgt rund 1 Stunde. Im Urin und Stuhl finden sich nur geringe Mengen des aktiven Metaboliten. Zytochrome spielen keine Rolle im Metabolismus des Medikaments.
Klinische Studien
Die Zulassung des Präparates beruht auf zwei grossen Doppelblindstudien, in denen das Medikament mit Placebo verglichen wurde. In diese Studien wurden Erwachsene im Alter von 18 bis 55 Jahren aufgenommen, die einen Basiswert zwischen 0 und 5 auf der «Expanded Disability Status Scale» (EDSS) und mindestens eine MS-typische («Gadolinium-positive») Läsion im MRT oder mindestens einen klinisch dokumentierten MS-Rückfall innerhalb von 12 Monaten vor der Studie hatten. Kranke mit einem Rückfall oder einer Kortikosteroid-Therapie im Zeitraum von 50 Tagen vor der Studie oder «instabile» Kranke konnten nicht teilnehmen. Bei der einen Studie – DEFINE – wurden zudem alle Personen ausgeschlossen, die in den drei Monaten vor der Studie mit einem Interferon-Präparat oder Glatiramer (Copaxone®) behandelt worden waren. Dies galt auch für die zweite, sogen. CONFIRM-Studie, wobei aber die Teilnehmenden noch gar nie Glatiramer erhalten haben durften.
In DEFINE wurden 1‘234 Personen aufgenommen. Während 96 Wochen sollten 410 zweimal täglich 240 mg Dimethylfumarat, 416 dieselbe Dosis dreimal täglich und 408 Placebo erhalten; etwa ein Viertel der Teilnehmenden schieden vor Studienende aus. Innerhalb von zwei Jahren hatten in diesen Gruppen 27% (240 mg 2xTag), 26% (240 mg 3x/Tag) bzw. 46% (Placebo) einen Rückfall. Um einen Rückfall innerhalb von zwei Jahren zu vermeiden, mussten 5 Personen mit Dimethylfumarat statt mit Placebo behandelt werden (NNT). Entsprechend war auch die Häufigkeit von Rückfällen pro Jahr unter Dimethylfumarat signifikant kleiner. In dieser Studie war ferner eine an der EDSS gemessene, mindestens 12 Wochen anhaltende Zunahme der Behinderung unter Dimethylfumarat (16 bzw. 18%) signifikant seltener als unter Placebo (27%).(7)
In CONFIRM wurden dieselben Gruppen (mit derselben Dosierung) wie in DEFINE gebildet, aber zusätzlich noch eine weitere Gruppe von Personen, die offen mit täglich 20 mg Glatiramer s.c. behandelt wurden. Auch diese Studie dauerte 96 Wochen; pro Gruppe nahmen rund 350 Personen daran teil. Die Jahreshäufigkeit von Rückfällen – der primäre Endpunkt dieser Studie – betrug 0,22 (mit 240 mg x2/Tag), 0,20 (mit 240 mg x3/Tag), 0,29 (mit Glatiramer) und 0,40 (mit Placebo). (Die Studie war nicht auf einen Vergleich zwischen Dimethylfumarat und Glatiramer angelegt.) Alle aktiven Therapien waren in Bezug auf Rückfälle signifikant wirksamer als Placebo. Dagegen zeigte sich kein signifikanter Unterschied zwischen Dimethylfumarat, Glatiramer und Placebo in Bezug auf eine anhaltende Zunahme der Behinderung.(8)
Ergänzend kann festgehalten werden, dass bisher keine Studien vorliegen, in denen Dimethylfumarat direkt mit anderen verlaufsmodifizierenden Medikamenten verglichen worden ist. Ob mit dem Medikament eine längerfristige Änderung der MS-bedingten Behinderung erreicht wird, ist nicht gesichert, da diesbezüglich weder in der einen noch der anderen Studie ein während sechs Monaten anhaltender signifikanter Einfluss gezeigt werden konnte.(9)
Unerwünschte Wirkungen
Hitzewallungen (bzw. «Flushing») sind die häufigsten unerwünschten Wirkungen; sie treten besonders initial bei etwa einem Drittel der Behandelten auf. Ebenfalls häufig sind Bauchbeschwerden, Durchfall und Brechreiz. Unter Dimethylfumarat können erhöhte Transaminasen sowie eine Proteinurie auftreten; das Medikament hat also ein hepato- und nephrotoxisches Potential. Die Lymphozytenzahlen nehmen durchschnittlich um 30% ab. Mehrere, teilweise letal verlaufene Fälle von progressiver multifokaler Leukoenzephalopathie (PML) unter Fumarsäure-Präparaten sind beschrieben, neuerdings auch bei Personen, die wegen ihrer MS Dimethylfumarat erhielten.(10)
Interaktionen
Pharmakokinetische Interaktionen sind keine bekannt. Gleichzeitige Verabreichung mit immunsuppressiven oder nephrotoxischen Medikamenten kann eventuell die entsprechenden Risiken erhöhen.
Dosierung, Verabreichung, Kosten
Dimethylfumarat (Tecfidera®) ist als Kapseln zu 120 mg und zu 240 mg erhältlich, die magensaftresistente Mikrotabletten enthalten. Es ist zur Behandlung einer schubförmig remittierenden MS zugelassen; initial sollen zweimal täglich 120 mg, nach einer Woche dann zweimal täglich 240 mg verabreicht werden. Blutbildkontrollen sollen in den ersten 18 Behandlungsmonaten alle 3 Monate, später alle 6 Monate durchgeführt werden; sinken die Leukozyten unter 3000/mcl bzw. die Lymphozyten unter 500/mcl, so muss Dimethylfumarat pausiert werden. Alle 6 Monate sollen auch die Leber- und Nierenwerte geprüft werden. Schwangere, Stillende und Personen unter 18 Jahren sollen kein Dimethylfumarat einnehmen; bei Personen über 55 ist das Medikament nicht untersucht. Das Medikament ist kassenzulässig, die Behandlungskosten betragen 1‘975 Franken pro Monat. Injizierbare MS-Medikamente sind etwas billiger (1‘400 bis 1‘650 Franken/Monat).
Alemtuzumab
Alemtuzumab (Lemtrada®, früher MabCampath®) ist in der Schweiz im Dezember 2014 zur intravenösen Behandlung der schubförmig remittierenden Multiplen Sklerose (MS) zugelassen worden.
Chemie/Pharmakologie
Alemtuzumab wurde 2001 zur Behandlung gewisser Formen einer chronisch-lymphatischen Leukämie eingeführt, 2012 aber aus kommerziellen Gründen aus dem Markt genommen.(11) Es handelt sich um einen monoklonalen Antikörper, der sich an ein Oberflächenprotein (CD52) der T- und B-Lymphozyten bindet, was zu einer Zytolyse führt. Der Wirkungsmechanismus bei MS ist nicht geklärt; es wird vermutet, dass es sich um ein immunmodulatorisches Geschehen handelt, wobei bestimmte Lymphozytenpopulationen durch andere ersetzt werden («Repopulation»).
Pharmakokinetik
Das Medikament wird intravenös infundiert; werden die Infusionen kurz hintereinander wiederholt, steigen die Alemtuzumab-Plasmakonzentrationen mit jeder Infusion weiter an. Die Plasmahalbwertszeit soll etwa 5 Tage betragen. Das Medikament bleibt etwa für einen Monat im Blut nachweisbar. Man nimmt an, dass es im Körper durch proteolytische Enzyme zu kleinen Peptiden und Aminosäuren abgebaut wird.
Klinische Studien
Drei randomisierte offene Studien liegen vor, in denen Alemtuzumab mit Interferon-beta-1a (Rebif®) verglichen wurde. In diese Studien wurden MS-Kranke aufgenommen, die mindestens zwei Schübe innerhalb der zwei Jahre vor der Studie hatten. Alemtuzumab (12 mg/Tag) wurde initial an fünf aufeinanderfolgeden Tagen infundiert und dann, ein Jahr später, nochmals an drei aufeinanderfolgenden Tagen. Von Interferon-beta-1a wurden, wie üblich, dreimal pro Woche 44 mcg subkutan injiziert. Die Beurteilung der Behinderung gemäss der «Expanded Disability Status Scale» (EDSS) erfolgte durch eine Fachperson, die von der Behandlung keine (sichere) Kenntnis hatte.
In eine erste Studie (CAMMS223) wurden nicht-vorbehandelte Personen in MS-Frühstadien aufgenommen; ihr EDSS-Score betrug maximal 3,0. In dieser 3-Jahres-Studie, die insgesamt 334 Personen umfasste, wurde eine der drei Gruppen mit einer höheren Alemtuzumab-Dosis (24 mg/Tag) behandelt. Für beide Alemtuzumab-Gruppen ergab sich, dass das neue Medikament die Behinderung durch die MS besser als Interferon-beta-1a beeinflusste. Diese Studie wurde allerdings von ungewöhnlich vielen – rund 40% – der mit Interferon Behandelten vorzeitig abgebrochen.(12)
In der mit CARE-MS-I bezeichneten 2-Jahres-Studie wurden ebenfalls Kranke behandelt, die noch keine MS-Basistherapie erhalten hatten. 386 Personen erhielten Alemtuzumab, 187 Interferon-beta-1a. Rückfälle waren in der Interferon-Gruppe signifikant häufiger; bezüglich einer vermehrten Behinderung, die mindestens 6 Monate anhielt, ergab sich kein signifikanter Unterschied zwischen den Gruppen.(13)
Vorbehandelte Personen wurden in die CARE-MS-II-Studie aufgenommen, die unter Interferon-beta oder Glatiramer (Copaxone®) mindestens einen Rückfall gehabt hatten. In dieser 2-Jahres-Studie erhielten 426 Personen die 12-mg-Dosis von Alemtuzumab und 202 Personen Interferon-beta-1a. Während es in der Interferon-Gruppe bei 51% zu einem Rückfall kam, waren es in der Alemtuzumab-Gruppe signifikant weniger (35%). Auch eine anhaltende Zunahme der Behinderung war in der Interferon-Gruppe häufiger (bei 20 gegenüber 13%).(14) (Eine Gruppe mit jeweils 24 mg pro Alemtuzumab-Dosis wurde im Laufe der Studie aufgegeben; detaillierte Resultate zur Wirksamkeit dieser Dosis fehlen.) In dieser Studie wurden allerdings die initialen EDSS-Scores erst nach der Randomisierung erhoben.(15) Ein weiteres Problem beruht auf der Tatsache, dass in der Interferon-Gruppe viel mehr Personen die Teilnahme abbrachen als in der Alemtuzumab-Gruppe. Dies erklärt sich wohl mit dem Umstand, dass es sich um Kranke handelte, bei denen es bereits vor der Studie trotz «Basistherapie» zu Rückfällen gekommen war.(15) Ausserdem verfälscht möglicherweise auch der höchst unterschiedliche Behandlungsmodus die Resultate, da nur die Teilnehmenden der Interferon-Gruppe kontinuierlich behandelt werden mussten.
Unerwünschte Wirkungen
Infusionsreaktionen treten fast bei allen Behandelten auf: am häufigsten sind verschiedene Hautreaktionen, Kopfschmerzen, Fieber und Brechreiz. Viele andere Symptome sind beobachtet worden. Gefährliche Reaktionen (anaphylaktischer Schock, Hypotonie, Herzrhythmusstörungen) kommen vor. Viel häufiger als in den Interferon-Gruppen sind Infektionen der Atem- und Harnwege, Herpes- und Pilzinfektionen. Alemtuzumab induziert häufig Autoimmunkrankheiten, insbesondere Schilddrüsen-Funktionsstörungen. Hypo- und Hyperthyreose oder das Vollbild einer Basedow-Erkrankung können noch Jahre nach den Alemtuzumab-Infusionen auftreten. Andere autoimmunologisch erklärbare Krankheiten sind seltener, jedoch eventuell lebensbedrohlich: Fälle von idiopathischer thrombozytopenischer Purpura, Glomerulonephritis (Goodpasture-Syndrom) und von Zytopenien sind beobachtet worden. Nach einer Alemtuzumab-Therapie sind Neoplasien (besonders Schilddrüsenkrebs, Melanome) möglicherweise gehäuft.(15)
Interaktionen
Wahrscheinlich kann Alemtuzumab mit anderen Immunmodulatoren vermehrt Probleme verursachen; dies ist jedoch nicht dokumentiert.
Dosierung, Verabreichung, Kosten
Alemtuzumab (Lemtrada®) ist als Infusionskonzentrat erhältlich; aus einer Durchstichflasche wird eine Dosis von 12 mg entnommen, mit einer Infusionslösung (NaCl oder Glukose) verdünnt und während etwa vier Stunden infundiert. Die Verabreichung erfolgt wie in den klinischen Studien in zwei Zyklen, die ein Jahr auseinanderliegen (siehe oben). Kurz vor den drei ersten Infusionen jedes Zyklus soll 1 g Methylprednisolon (Solu-Medrol®) intravenös verabreicht werden; ausserdem ist jeweils eine Herpesprophylaxe während mindestens einem Monat indiziert, z.B. mit Aciclovir (Zovirax® u.a., zweimal 200 mg/Tag). Auch Antihistaminika und Antipyretika sind allenfalls notwendig. Schwangere Frauen, Personen unter 18 Jahren und solche mit einer erhöhten Infektanfälligkeit (z.B. HIV-Kranke) oder einer aktiven Infektionskrankheit (z.B. Tuberkulose) sollen nicht mit Alemtuzumab behandelt werden. Die Kosten der Behandlung (inkl. Zusatzmedikation) betragen ungefähr 78‘000 Franken. Der Alemtuzumab-Preis pro mg beträgt aktuell CHF 806.10 – früher (MabCampath®) lag er ungefähr bei CHF 25 pro mg.
Kommentar
Nach dem aktuellen Wissensstand stellt keines der hier besprochenen Medikamente einen relevanten Fortschritt in der Behandlung der Multiplen Sklerose dar. Insbesondere fehlt ein überzeugender Nachweis, dass sie die Behinderung der Betroffenen längerfristig besser oder auch nur ebenso gut beeinflussen wie Interferon-beta. Dies gilt auch für Alemtuzumab, weil die entsprechenden Studien qualitativ nicht genügen. Zudem sind die unerwünschten Wirkungen dieser Mittel keineswegs zu vernachlässigen! Alle drei Medikamente sind nicht wirklich neu, sondern gewissermassen rezykliert – um höhere Einnahmen zu erzielen, wurde auf eine Indikationserweiterung der früheren (billigeren) Präparate verzichtet und stattdessen neue geschaffen. Dass die Industrie damit im ethikfreien Raum agiert, muss wohl nicht besonders unterstrichen werden.
Literatur
- 1) Masche UP. pharma-kritik 2002; 24: 10-11 (pk51)
- 2) O’Connor P et al. N Engl J Med 2011; 365: 1293-1303
- 3) Confavreux C et al. Lancet Neurol 2014; 13: 247-56
- 4) NICE (UK)-Dokument : http://goo.gl/aB7IoC
- 5) Vermersch P et al. Mult Scler 2014 ; 20 : 705-16
- 6) Passweg J. pharma-kritik 1985; 7: 73-4
- 7) Gold R et al. N Engl J Med 2012; 367: 1098-107
- 8) Fox RJ et al. N Engl J Med 2012; 367: 1087-97
- 9) EMA-Dokument: http://goo.gl/40eRHA
- 10) Nieuwkamp DJ et al. N Engl J Med 2015; 372: 1474-6
- 11) Masche UP. pharma-kritik 2013; 35: 5-8 (pk891)
- 12) Coles AJ et al. N Engl J Med 2008; 359: 1786-801
- 13) Cohen JA et al. Lancet 2012; 380 : 1819-28
- 14) Coles AJ et al. Lancet 2012; 380 : 1829-39
- 15) FDA Briefing Document: http://goo.gl/YMWmyg
Standpunkte und Meinungen
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