Telbivudin
- pharma-kritik-Jahrgang 32
, Nummer 10, PK797
Redaktionsschluss: 22. Februar 2011
DOI: https://doi.org/10.37667/pk.2010.797 - PDF-Download der Printversion dieser pharma-kritik Nummer
Telbivudin (Sebivo®) wird zur Behandlung einer kompensierten chronischen Hepatitis B (CHB) empfohlen.
Chemie/Pharmakologie
Telbivudin ist ein Nukleosid-Analogon von Thymidin mit spezifischer Wirkung gegen die DNA-Polymerase der Hepatitis-B-Viren (HBV). Die intrazellulär gebildeten 5-Triphosphat-Metaboliten hemmen kompetitiv die «Reverse»-Transkriptase, was die weitere Synthese von HBV-DNA verhindert. Telbivudin ist nur gegen HBV wirksam.
Pharmakokinetik
Telbivudin wird bei Gesunden nach oraler Verabreichung unabhängig von der Nahrungsaufnahme rasch resorbiert. Maximale Plasmakonzentrationen werden nach 1 bis 3 Stunden erreicht. Die Ausscheidung erfolgt unverändert über die Nieren, teilweise auch über den Darm. Die terminale Halbwertszeit beträgt 40 bis 49 Stunden. Die Pharmakokinetik einer Tagesdosis von 600 mg ist bei Personen mit einer CHB nicht untersucht worden. Entsprechende Daten fehlen auch für ältere Personen und Kinder.(1)
Klinische Studien
Telbivudin wurde in zwei Doppelblindstudien bei überwiegend asiatischen Kranken mit kompensierter HBeAG-positiver und -negativer CHB mit Lamivudin (3-TC®, Zeffix®) verglichen.(2,3) Als primärer Endpunkt war das therapeutische Ansprechen (Suppression der HBV-DNA, HBeAG-Serokonversion oder Normalisierung der GPT) nach einem Jahr definiert.
In der GLOBE-Studie wurden 921 HBeAG-positive und 446 HBeAG-negative Personen während 2 Jahren täglich mit 600 mg Telbivudin oder 100 mg Lamivudin behandelt.(2,4) HBeAG-Positive sprachen nach einem Jahr unter Telbivudin zu 75%, unter Lamivudin zu 67% auf die Therapie an; bei HBeAG-Negativen waren es 75% bzw. 77%. Nach zwei Jahren schnitt Telbivudin signifikant besser ab als Lamivudin (HBeAG-Positive: 61% gegenüber 47% - HBeAG-Negative 74% gegenüber 62%). Erreichten HBeAG-Positive die therapeutischen Endpunkte, so wurde die Therapie beendigt und HBeAG nachkontrolliert. Während einer mittleren Beobachtungszeit von 6 Monaten blieben 80% der Personen nach Telbivudin- und 88% nach Lamivudin-Therapie HBeAG-negativ. In anderen Folgestudien konnte eine Telbivudin-induzierte dauerhafte HBeAG-Serokonversion nach Beendigung der Therapie während 2 Jahren und länger beobachtet werden.(5)
In einer weiteren kontrollierten Studie bei 332 chinesischen Patientinnen und Patienten mit CHB konnten die Resultate der GLOBE-Studie weitgehend bestätigt werden.(3)
Bei einem Teil der in beiden Studien mit Telbivudin behandelten Personen wurde diese Therapie während zwei weiteren Jahren fortgeführt.(6) Während der insgesamt 4-jährigen Behandlungszeit erhöhte sich die kumulative Rate der HBeAG-Serokonversion von 28% auf 54%.
In einer offenen Studie supprimierte Telbivudin bei HBeAG-Positiven die HBV-DNA signifikant besser als Adefovir (Hepsera®), Unterschiede der HBeAG-Serokonversion konnten jedoch nicht festgestellt werden.(7) Bei Kranken mit persistierender Virämie nach 3- bis 12-monatiger Lamivudin-Therapie konnte mit einem Wechsel auf Telbivudin eine signifikante Suppression der HBV-DNA erzielt werden.(8) Bei HBeAG-Positiven ohne vorherige Behandlung mit einem Nukleosid-Analogon zeigte Telbivudin nach 24 Wochen eine mit Entecavir (Baraclude®) vergleichbare gute antivirale Wirksamkeit.(9)
Resistenz: Therapieresistente Virusstämme entstehen durch Mutation im viralen DNA-Polymerase-Gen. Die Häufigkeit hängt von der Therapiedauer ab. Eine primäre Telbivudin-Resistenz ist selten. Telbivudin-Resistenzen treten bei HBeAG-Positiven nach einem Jahr bei 5%, nach zwei Jahren bei 25%, bei HBeAG-Negativen bei 2% bzw. bei 10% auf. Unter Telbivudin sind sie seltener als unter Lamivudin, wobei zwischen beiden Mitteln eine weitgehende Kreuzresistenz gegen die häufigsten HBV-Varianten vorliegt.
Unerwünschte Wirkungen
Häufig werden Infekte der oberen Luftwege, Nasopharyngitis, Müdigkeit und Kopfschmerzen beobachtet. 5% der Behandelten klagten über Myopathien. Bei 13% tritt ein vorübergehender Anstieg der Kreatinkinase auf. Diese ist aber zur Früherfassung von Myopathien nicht geeignet. Schwere periphere Neuropathien können bei gleichzeitiger Verabreichung von Peginterferon-alfa-2a (Pegasys®) auftreten. Interaktionen mit anderen Medikamenten sind keine bekannt. Telbivudin soll während einer Schwangerschaft nur bei absoluter Notwendigkeit eingesetzt werden.
Dosierung, Verabreichung, Kosten
Telbivudin (Sebivo®) ist als Filmtabletten zu 600 mg sowie als Lösung mit 20 mg/ml erhältlich. Die empfohlene Tagesdosis beträgt 600 mg und kann unabhängig von der Nahrung eingenommen werden. Bei Personen im Alter von unter 16 und über 65 Jahren sowie bei Kranken mit Lebertransplantation oder dekompensierter chronischer Hepatitis B wird das Mittel wegen fehlender Daten nicht empfohlen. Die Dosis muss bei eingeschränkter Nierenfunktion angepasst werden, nicht jedoch bei einer Leberfunktionsstörung. Die optimale Dauer der Therapie ist nicht bekannt. Die Kosten für eine Jahrestherapie mit Tabletten betragen rund 8400 Franken, mit der Suspension knapp 10'200 Franken.
Kommentar
Telbivudin wird als gut verträgliches Mittel mit virostatischer Wirkung zur Behandlung einer kompensierten chronischen Hepatitis B beurteilt.(10) Primäre Therapieversager sind selten. Im Vergleich zu Lamivudin ist die virostatische Wirkung deutlich besser, die Resistenzentwicklung geringer.
In der Schweiz leiden etwa 0,3% der Bevölkerung oder 20'000 Personen an einer CHB; davon sterben jährlich 40 bis 80 an den Folgen der Hepatitis. Die Therapie der CHB ist in den letzten Jahren äusserst komplex und ausserordentlich teuer geworden. Neben dem seit mehreren Jahren eingesetzten Peginterferon-alfa-2a mit vorwiegend immunmodulatorischer Wirkung stehen in der Schweiz zur Zeit fünf oral verabreichbare Virostatika mit unterschiedlicher Wirksamkeit und unterschiedlichem Risiko einer Resistenzentwicklung zur Verfügung. Trotz regelmässig auf den neuesten Stand gebrachten internationalen und nationalen Richtlinien basiert zur Zeit die Wahl des Medikamentes noch nicht auf evidenzbasierten Fakten.(12) Der Entscheid, ob eine CHB primär mit einer auf 48 Wochen limitierten Therapie mit Peginterferon-alfa-2a oder mit eventuell lebenslang zu verabreichenden Virostatika behandelt werden soll, ist schwierig zu fällen. In den für die Schweiz angepassten Richtlinien der «European Association for the Study of the Liver» wird wegen der besseren HbeAG-Serokonversionraten nach wie vor Peginterferon-alfa-2a als primäre Therapie empfohlen.(12) Tenofovir (Viread®) und Entecavir sind die wirksamsten Virostatika zur Behandlung einer CHB und weisen nur ein geringes Risiko einer Resistenzentwicklung auf. Sie eignen sich deshalb für die primäre Therapie einer unbehandelten CHB und sind auch geeignete Mittel beim Auftreten von Resistenzen. Dass Telbivudin ein Platz bei der Behandlung einer CHB z.B. bei der langfristigen Suppression persistierender HBV-DNA nach Therapie mit Peginterferon-alfa-2a zukommt, muss zuerst noch entsprechend dokumentiert werden. Dem britischen «National Institute for Health and Clinical Excellence» (NICE) genügen die vorliegenden Daten nicht, um die Anwendung von Telbivudin zu empfehlen.(13)
Literatur
- 1) Keam SJ. Drugs 2007; 67: 1917-29
- 2) Lai CL et al. N Engl J Med 2007; 357: 2576-88
- 3) Hou J et al. Hepatology 2008; 47: 447-54
- 4) Liaw YF et al. Gastroenterology 2009; 136: 486-95
- 5) Ren H et al. Hepatol Int 2010; 4: 145 (PP-190, Abstract/Poster)
- 6) Jia JD et al. Hepatol Int 2010; 4: 56 (FP-090, Free Paper/Abstract)
- 7) Chan HL et al. Ann Intern Med 2007; 147: 745-54
- 8) Safadi R al. Liver Int 2010 (Oct 29); DOI: 10.1111/j.1478-3231.2010.02360.x (Epub ahead of print)
- 9) Zheng MH et al. J Hepatol 2010; 52 (Suppl 1): S401 (Abstract)
- 10) McKeage K et al. Drugs 2010; 70: 1857-83
- 11) European Association for the Study of the Liver (EASL). J Hepatol 2009; 50: 227-42
- 12) Bihl F et al. Swiss Med Wkly 2010; 140: 154-9
- 13) http://guidance.nice.org.uk/TA154
Standpunkte und Meinungen
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