Atomoxetin

Synopsis

Atomoxetin (Tomoxetin, Strattera®) ist neuerdings in der Schweiz zur Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Aufmerksamkeitsdefizit und Hyperaktivitätsstörungen (ADHS) zugelassen worden.

Chemie/Pharmakologie

Atomoxetin ist ein Benzenpropanamin und hat eine sehr ähnliche Struktur wie Fluoxetin (Fluctine® u.a.). Es handelt sich um einen hochselektiven Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer; während der Noradrenalin-Transporter stark gehemmt wird, beeinflusst unverändertes Atomoxetin den Serotonin- und den Dopamin-Transporter nicht. In seinen Auswirkungen auf die Rezeptoren gleicht es somit dem Antidepressivum Reboxetin (Edronax®). Methylphenidat (Ritalin® u.a.) hemmt dagegen nicht nur die Wiederaufnahme von Noradrenalin, sondern auch von Dopamin. Es ist jedoch festzuhalten, dass die genaue Wirkungsweise von Atomoxetin bei ADHS nicht geklärt ist.

Pharmakokinetik

Nach oraler Aufnahme wird Atomoxetin rasch resorbiert; nach 1-2 Stunden sind maximale Plasmaspiegel erreicht. Für den Metabolismus des Medikaments ist in erster Linie das Zytochrom CYP2D6 verantwortlich. Da dieses polymorph vererbt wird und da Atomoxetin teilweise bereits präsystemisch metabolisiert wird («first pass effect»), ist die biologische Verfügbarkeit individuell recht unterschiedlich (zwischen rund 65 und 95%). Der eine Hauptmetabolit von Atomoxetin (4-Hydroxyatomoxetin) hemmt sowohl die Noradrenalin- als auch die Serotonin-Wiederaufnahme, erreicht jedoch nur geringe Plasmaspiegel, da dieser Metabolit weiter abgebaut wird. N-Desmethylatomoxetin, der zweite Hauptmetabolit, ist pharmakologisch weniger aktiv. Bei Personen mit einer hohen CYP2D6-Aktivität («extensive metabolizers») beträgt die Plasmahalbwertszeit etwa 3½ Stunden, bei solchen mit reduzierter CYP2D6-Aktivität («poor metabolizers») dagegen über 20 Stunden. In der Schweiz sind 5 bis 10% der Bevölkerung «poor metabolizers »; bei diesen werden sehr viel höhere Plasmaspiegel erreicht. Das Medikament wird vorwiegend in Form eines Glukuronids mit dem Urin ausgeschieden.

Bei Personen mit reduzierter Leberfunktion erfolgt der Abbau verzögert. Auch bei Niereninsuffizienz können erhöhte Plasmaspiegel beobachtet werden, sofern die Dosis nicht dem Körpergewicht angepasst wird.

Klinische Studien

Die Wirksamkeit von Atomoxetin wurde in erster Linie mit der «Attention Deficit Hyperactivity Disorder Rating Scale » (ADHD RS) bestimmt. Diese 18-Punkte-Skala orientiert sich an den aktuellen Diagnosekriterien der ADHS. Ausserdem wurde die «Clinical Global Impression» zur Beurteilung verwendet.

Gemäss den heute vorliegenden Publikationen wurde Atomoxetin bei ADHS in etwa 20 randomisierten Studien mit Placebo verglichen. Die meisten Studien wurden bei jungen Leuten durchgeführt; knapp 2000 Kinder und Jugendliche zwischen 6 und 17 Jahren waren daran beteiligt. Diese Studien dauerten meistens 6 bis 12 Wochen. In 5 Studien wurde das Medikament bei Erwachsenen geprüft. Alle diese Placebovergleiche ergaben eine signifikante Wirkung von Atomoxetin auf die Symptome der ADHS.

Bei 406 Kindern mit ADHS im Alter von durchschnittlich 10 Jahren, die auf Atomoxetin angesprochen hatten, wurde die langfristige Wirkung des Medikamentes geprüft. Sie erhielten während 9 Monaten randomisiert entweder Atomoxetin (durchschnittlich 1,57 mg/kg/Tag) oder Placebo. Nach dieser Zeit war es bei 38% der Kinder unter Placebo, aber nur bei 22% unter Atomoxetin zu einem Rückfall der Symptome gekommen. Auch die ADHDRS-Punktezahl verschlechterte sich unter Atomoxetin signifikant weniger.(1) Anschliessend wurde bei 163 Kindern erneut eine Randomisierung vorgenommen und nochmals für 6 Monate mit Atomoxetin oder Placebo behandelt. Auch während dieser Zeit war Atomoxetin erfolgreicher, wobei unter Placebo die ADHS-Symptome zwar allgemein wieder zunahmen, jedoch nicht in dem Ausmass, wie sie vor der Therapie bestanden hatten. Auch wurde eine hohe individuelle Variabilität beobachtet.(2)

Weniger zahlreich sind die Studien, in denen Atomoxetin mit Methylphenidat verglichen wurde. Zudem lassen sich diese Studien aus verschiedenen Gründen kritisieren, insbesondere weil sie zum Teil nicht doppelblind durchgeführt wurden, die Vergleichsgruppen ungleich gross waren oder zu wenig lange dauerten.(3)

In einer grossen Doppelblindstudie wurden Kinder und Jugendliche mit ADHS zwischen 6 und 16 Jahren mit individuell titrierten Dosen der beiden Medikamente oder mit Placebo behandelt. Atomoxetin wurde zweimal täglich in einer Dosis von 0,4 bis 0,9 mg/kg gegeben (n=222), retardiertes Methylphenidat einmal täglich (18-54 mg, n=220). Als Erfolg galt eine mindestens 40%-ige Abnahme des ADHDRS-Resultats nach 6 Wochen Behandlung. Mit Methylphenidat wurde dieser Endpunkt bei 56% der Behandelten erreicht, mit Atomoxetin signifikant seltener (bei 45%) und mit Placebo nur bei 24%. Nach Abschluss der ersten 6 Studienwochen blieb die Behandlung in der Atomoxetingruppe unverändert, dagegen erhielten nun diejenigen, die mit Methylphenidat behandelt worden waren, ebenfalls Atomoxetin. So konnte bei 30 der 70 Kinder, die nicht genügend auf Methylphenidat angesprochen hatten, mit Atomoxetin noch ein Erfolg erreicht werden.(4)

In einer ähnlichen, etwas kleineren Doppelblindstudie wurden – ebenfalls bei Kindern und Jugendlichen zwischen 6 und 16 – im Zeitraum von 8 Wochen allgemein deutlich höhere Erfolgsraten erreicht. So waren unter Methylphenidat 81% und unter Atomoxetin 77% «Responder» (kein signifikanter Unterschied). In dieser Studie erfolgte kein Vergleich mit Placebo.(5)

Gemäss einer Doppelblindstudie, in der 142 Jugendliche mit ADHS und einer Depression entweder mit Atomoxetin oder mit Placebo behandelt wurden, hat Atomoxetin keine nennenswerte antidepressive Wirkung.(6) Dagegen ist es möglich, dass sich bei ADHS verabreichtes Atomoxetin auch gegen Angstsymptome vorteilhaft auswirkt.(7)

Unerwünschte Wirkungen

Unter Atomoxetin werden sehr häufig Kopfschmerzen, Bauchschmerzen, Brechreiz oder Erbrechen und eine nicht selten von Gewichtsverlust begleitete Appetitlosigkeit beobachtet. Häufig sind auch Reizbarkeit, Stimmungsschwankungen, Somnolenz, Schwindel, Mydriase, Mundtrockenheit, Verstopfung, Juckreiz, Exantheme, Herzklopfen, Miktionsschwierigkeiten sowie Dysmenorrhoe. Schlaflosigkeit wurde besonders bei Erwachsenen festgestellt. Die Herzfrequenz und der Blutdruck steigen meistens – gegenüber Placebo signifikant – etwas an. Das Nebenwirkungsspektrum von Atomoxetin erinnert somit an dasjenige von Venlafaxin (Efexor® u.a.), bei dem die Wirkung ebenfalls mindestens teilweise auf einer Wiederaufnahmehemmung von Noradrenalin beruht.
Im Vergleich mit Methylphenidat waren in der längsten bisher publizierten Doppelblindstudie unter Atomoxetin Appetitverlust, Brechreiz/Erbrechen, Somnolenz, Schwindel sowie Gewichtsverlust signifikant häufiger.(5)
Bedeutsam sind auch verschiedene sehr seltene, aber gefährliche Komplikationen einer Behandlung mit Atomoxetin: Hepatotoxische Reaktionen, suizidale Gedanken und Handlungen, eine Verlängerung des QT-Intervalls, eventuell auch epileptische Anfälle gehören zu diesen Problemen. Die «American Heart Association» rät, vor der Verabreichung von Atomoxetin (oder Methylphenidat) ein EKG durchzuführen und dieses fachärztlich beurteilen zu lassen. In der amerikanischen Präparateinformation wird das Risiko einer suizidalen Entwicklung in den ersten Monaten einer Behandlung besonders hervorgehoben und eine entsprechend aufmerksame Beobachtung innerhalb der Familie empfohlen. Das Absetzen von Atomoxetin scheint keine grösseren Probleme zu verursachen. Dies ist jedenfalls das Resultat einer Untersuchung bei Kindern, die während 9 bis 10 Wochen Atomoxetin erhalten hatten, worauf das Medikament abgesetzt wurde. Die ADHS-Symptome nahmen wieder zu; es kam jedoch nicht zu einem eigentlichen Entzugssyndrom.(8)

Interaktionen
Die gleichzeitige Verabreichung von CYP2D6-Hemmern (viele Antidepressiva, Antihistaminika, Betablocker und andere) kann dazu führen, dass die Plasmaspiegel von Atomoxetin um ein Mehrfaches ansteigen und entsprechend auch das Nebenwirkungsrisiko erhöht wird. In Bezug auf die kardiovaskulären Auswirkungen ist Vorsicht geboten bei der gleichzeitigen Verabreichung von anderen Medikamenten, die auf das adrenerge System einwirken (z.B. Betamimetika, andere Noradrenalin- Wiederaufnahmehemmer wie Venlafaxin). Das Risiko einer QT-Verlängerung ist erhöht, wenn auch noch andere Medikamente mit dieser Nebenwirkung (z.B. Makrolide, einzelne Neuroleptika, Methadon) gegeben werden. Die gleichzeitige Verabreichung mit MAO-Hemmern ist kontraindiziert.

Dosierung, Verabreichung, Kosten

Atomoxetin (Strattera®) ist als Hartgelatinekapseln in fünf verschiedenen Dosierungen (10, 18, 25, 40, 60 mg) erhältlich, verschärft rezeptpflichtig («einmalige Abgabe auf ärztliche Verschreibung»), zur Zeit aber in der Schweiz nicht kassenzulässig. Es ist offiziell nur für Kinder ab 6 Jahren und Jugendliche zugelassen; eine Altersbeschränkung (nach oben) ist aber nicht deklariert. Das Medikament kann als Einzeldosis am Morgen oder in zwei Dosen (am Morgen und am späten Nachmittag) verabreicht werden. Bei Kindern und Jugendlichen mit einem Körpergewicht bis zu 70 kg soll die Behandlung mit einer Tagesdosis von ungefähr 0,5 mg/kg begonnen werden. Nach 1 bis 2 Wochen kann die Dosis nötigenfalls auf 0,8 mg pro kg/Tag und nochmals 1 bis 2 Wochen später auf 1,2 mg pro kg/Tag angehoben werden. Lässt sich dann innerhalb eines weiteren Monats keine Besserung feststellen, so soll Atomoxetin abgesetzt werden. Das Arzneimittelkompendium enthält auch Dosisangaben für Personen mit einem Körpergewicht von über 70 kg. Schwangere und Stillende sollen kein Atomoxetin einnehmen, da die Ungefährlichkeit des Medikamentes in diesen Fällen nicht gesichert ist. Bei Leberinsuffizienz muss die Atomoxetin-Dosis auf 25 bis 50% der üblichen Dosis reduziert werden. Es wird empfohlen, Gewicht und Wachstum der behandelten Kinder und Jugendlichen zu überwachen und bei einem allfälligen Defizit die Behandlung auszusetzen.

Kommentar

In Anbetracht der zahlreichen Atomoxetin-Nebenwirkungen ist es von untergeordneter Bedeutung, ob Atomoxetin bei ADHS ähnlich oder weniger wirksam ist als Methylphenidat. Sorge bereitet insbesondere das Risiko zwar seltener, aber gefährlicher Komplikationen (suizidale Entwicklung, Lebertoxizität, QT-Verlängerung). Methylphenidat ist natürlich auch kein problemloses Medikament.(9) Ob aber Atomoxetin überhaupt ein Platz in der Behandlung von Kindern und jungen Leuten zukommt, muss doch sehr bezweifelt werden.

Standpunkte und Meinungen

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Atomoxetin (7. September 2009)
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pharma-kritik, 31/No. 3
PK44
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