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Pflegende Angehörige nicht vergessen!
- k -- Cameron JI, Chu LM, Matte A et al. One-year outcomes in caregivers of critically ill patients.N Engl J Med 2016 (12. Mai); 374: 1831-41 [Link]
- Zusammenfassung:
- Kommentar: Edy Riesen
- infomed screen Jahrgang 20 (2016)
, Nummer 5
Publikationsdatum: 5. Oktober 2016 - PDF-Download dieses Artikels (automatisch generiert)
Studienziele
Pflegebedürftige Personen werden oft von Familienangehörigen oder
engen Freunden betreut. In Nordamerika wird auf diese Art
unbezahlte Arbeit im Wert von rund 660 Milliarden Dollar geleistet.
Wieweit dieses freiwillige Engagement die psychische Gesundheit der
Pflegenden belastet und welche Charakteristika von Pflegenden und
Gepflegten diesen Zusammenhang beeinflussen, sollte in der
vorliegenden Studie aus Kanada untersucht werden. Dabei wurde der
Fokus bewusst auf die Betreuung akut lebensbedrohlich erkrankter
Personen gelegt, da es hierzu noch weniger Daten gibt als zur Pflege chronisch Kranker.
Methoden
Es wurden insgesamt 280 ehrenamtlich Pflegende untersucht, welche
für die Betreuung einer schwerkranken Person (mindestens
siebentägige Intubationsphase auf einer Intensivstation) nach der
Spitalentlassung verantwortlich waren. Jeweils 7 Tage nach der
Spitalentlassung sowie 3, 6 und 12 Monate danach wurden sowohl
Pflegende als auch Gepflegte beurteilt. Bei den Pflegenden wurde
das Ausmass depressiver Symptome untersucht, die physische und
psychische Lebensqualität sowie verschiedene Charakteristika,
welche einen Einfluss auf die Belastbarkeit haben könnten (z.B.
demographische und sozioökonomische Daten, Einfluss der Betreuung
auf andere Aktivitäten, Ausmass von sozialer Unterstützung und
Selbstbestimmung). Bei den Gepflegten interessierte hauptsächlich
der Schweregrad der Pflegebedürftigkeit, aber auch diverse andere
Parameter wie beispielsweise der Grad der sozialen Re-Integration,
die Mobilität, das Vorliegen depressiver Symptome oder die Lebensqualität.
Ergebnisse
Bei 158 von 280 Pflegenden (55%) konnten Beurteilungen zu allen
vier geplanten Zeitpunkten vorgenommen werden. Das
durchschnittliche Alter der Betreuenden betrug 53 Jahre, davon
waren 70% Frauen und 61% betreuten den Ehepartner oder die
Ehepartnerin. Die Betreuten waren im Schnitt 55 Jahre alt, 70%
waren Männer. In der ersten Woche nach der Spitalentlassung zeigten
14% der Pflegenden leichte depressive Symptome und bei 53% lag eine
manifeste Depression vor. Nach 12 Monaten betraf dies noch 16% bzw.
27% der Pflegenden. Es konnten zwei verschiedene Symptomverläufe
ausgemacht werden: Bei der Mehrheit der Pflegenden (84%) mit
depressiven Symptomen klangen diese im Laufe eines Jahres ab, bei
16% blieben sie jedoch unverändert hoch. Jüngere Pflegende und
solche, die nicht ihren Ehepartner oder ihre Ehepartnerin
betreuten, hatten ein höheres Risiko für depressive Symptome.
Ebenfalls ungünstig für die psychische Gesundheit waren ein
schwaches soziales Netzwerk, eine vermehrte Einschränkung der
gewohnten Aktivitäten sowie das Gefühl fehlender Selbstbestimmung.
Eine schützende Wirkung hatte die Fähigkeit, die Pflegeaufgabe als
eine Möglichkeit zu innerem Wachstum zu deuten. Eine schlechtere
Lebensqualität erreichten Pflegende, welche überdurchschnittlich
beansprucht wurden, deren Selbstbestimmung stärker eingeschränkt
war oder die über ein niedrigeres Einkommen verfügten. Das Ausmass
der Pflegebedürftigkeit und andere Charakteristika der gepflegten
Personen hatten hingegen keinen Einfluss auf die psychische und
physische Gesundheit der Pflegenden.
Schlussfolgerungen
67% der Personen, welche schwer erkrankte Familienangehörige
ehrenamtlich pflegten, litten in der Woche nach dem Spitalaustritt
an depressiven Symptomen. Bei 43% persistierten diese nach Ablauf
eines Jahres. Das Risiko für depressive Symptome war mit
verschiedenen Charakteristika der Pflegenden selber, nicht aber mit
dem Zustand der gepflegten Person verknüpft.
Zusammengefasst von Bettina Wortmann
Zeigt diese mit grossem Aufwand gemachte Studie wirklich viel
Neues? Zwar bietet sie überzeugende Zahlen, welche als «harte
Daten» bei Verhandlungen mit den Krankenkassen Argumente für
Übernahme von Betreuungskosten liefern. Für den Hausarzt bzw. die
Hausärztin ist es jedoch selbstverständlich, auch an die
Angehörigen zu denken. Die hohe Zahl der pflegenden Angehörigen mit
depressiven Symptomen lässt vermuten, dass sich auch unter den
«Aufgestellten» solche mit Depressionen verbergen. Es heisst also,
lange(!) aufmerksam zu bleiben. Die Faktoren, die eine Depression
begünstigen, sind, wenn man sie «umgekehrt» liest, ein mögliches
Arbeitsprogramm für den Hausarzt oder die Hausärztin: Die
Betreuenden sollen trotz ihres Engagements immer noch ein
selbstbestimmtes Leben führen, das heisst soziale Kontakte pflegen,
Freizeit geniessen oder einer Teilzeitarbeit nachgehen dürfen. Dazu
braucht es je nach Pflegeaufwand eine «Wochenstruktur» mit
Unterstützung durch die ganze Familie, die Spitex, die Nachbarn
(?), eventuell auch die Nutzung einer Tagesstätte. Wen wundert es
da, dass der soziale Status, das Einkommen, die Ausbildung usw.
eine dominante Rolle spielen?
Etwas das in dieser Untersuchung vollständig fehlt, ist die
Sinnfrage! Man hat beinahe den liebsten Menschen verloren, er ist
vielleicht nicht mehr der gleiche wie zuvor, Lebenspläne haben sich
zerschlagen. Ist es eine Krankheit oder eine reife menschliche
Reaktion, wenn man depressive Symptome hat? Kurz: darf man heute
noch traurig sein?
Edy Riesen
Standpunkte und Meinungen
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