Benzodiazepin-Abhängigkeit

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Obwohl es kaum sinnvolle Indikationen für eine Langzeitverschreibung von Benzodiazepinen gibt, eine solche mit diversen Risiken (Abhängigkeit, Einschränkung der Fahrfähigkeit, kognitiver Abbau, Sturzneigung u.a.) einhergeht und in den letzten Jahren die Rezeptpflicht für Benzodiazepine in vielen Ländern verschärft wurde, werden noch immer grosse Mengen dieser Medikamente verschrieben und konsumiert. In der Schweiz geben 6,7% der Personen über 15 Jahre an, in den 30 Tagen vor der Befragung Schlaf- oder Beruhigungsmittel eingenommen zu haben. Etwa die Hälfte berichtet, diese Medikamente seit mehr als einem Jahr täglich einzunehmen, was auf die Schweizer Wohnbevölkerung hochgerechnet einer geschätzten Anzahl von ungefähr 218'000 Personen mit problematischem Konsum von Benzodiazepinen entspricht (1).

Die Zeitschrift «Australian Prescriber» hat eine Verschärfung der Rezeptpflicht in Australien für Alprazolam (Xanax®) – einem verhältnismässig toxischen Benzodiazepin mit hohem Abhängigkeitsrisiko – zum Anlass für einen Artikel über die Behandlungsoptionen bei Benzodiazepin-Missbrauch und -Abhängigkeit genommen (2).

Im Folgenden wird dieser Text zusammengefasst und – wo nötig – ergänzt und an die Schweizer Verhältnisse angepasst. Die Ausführungen gelten analog auch für die Abhängigkeit von Benzodiazepin-Analoga (auch «Z-Medikamente» genannt) wie Zolpidem (Stilnox® u.a.) und Zopiclon (Imovane® u.a.).

Prävention

Bereits nach einer kontinuierlichen Benzodiazepin-Einnahme von mehr als 3 bis 4 Wochen muss bei abruptem Absetzen mit Entzugssymptomen gerechnet werden. Durch eine Beschränkung der Verordnung auf maximal 1-2 Wochen kann das Risiko einer Abhängigkeit vermindert werden. Aus diesem Grund dürfen alle Benzodiazepine in der Schweiz im Prinzip nur für eine höchstens einmonatige kontinuierliche Behandlung verordnet werden. Ein Betäubungsmittelrezept wird jedoch nicht benötigt – mit Ausnahme von Flunitrazepam (Rohypnol®), das in einzelnen Kantonen nur mit Betäubungsmittelrezept verordnet werden kann. (In Deutschland betrifft die verschärfte Rezeptpflicht neben Flunitrazepam auch Midazolam [Dormicum® u.a.].) Die Behandlungsdauer kann in begründeten Einzelfällen auf 6 Monate verlängert werden, muss aber in jedem Fall zeitlich klar begrenzt sein (3).

In den meisten Fällen werden Benzodiazepine bei Schlafschwierigkeiten oder Angstzuständen verordnet. Die optimale Erstlinien-Therapie dieser Probleme ist allerdings nicht-medikamentös und umfasst psychologische Beratung sowie verhaltenstherapeutische Massnahmen.

Aufgrund von Entzugssymptomen und Toleranzentwicklung kann die langfristige Einnahme von Benzodiazepinen zu einer Dosissteigerung und zu einer paradoxen Verstärkung der ursprünglichen Problematik führen.

Diagnose und Beurteilung

Wenn bereits eine Abhängigkeit vorliegt, müssen als Erstes die konkreten Umstände beurteilt werden. Die Population, welche Benzodiazepine einnimmt, ist sehr heterogen – eine gebrechliche Rentnerin, die seit 20 Jahren wegen Schlafstörungen ein Sedativum benützt und nun vermehrt stürzt, muss anders behandelt werden als ein 25-jähriger Polytoxikomane, der illegal erworbenes Alprazolam konsumiert. In die Überlegungen einbezogen werden sollen das Alter der betroffenen Person, die ursprüngliche Indikation für die Verschreibung, Dauer und Dosis des Konsums, psychiatrische und internistische Begleiterkrankungen. Auch von Bedeutung ist, ob ein Missbrauch (auch in der Vergangenheit) von weiteren Substanzen besteht oder ein pathologischer Umgang mit Medikamenten («aberrant drug-related behaviours» wie Horten, intravenöse Verwendung oraler Arzneimittelformen, illegaler Handel u.a.) vorliegt. Sinnvoll ist es auch, den Schweregrad der Abhängigkeit einzuschätzen, beispielsweise mit der «Severity Dependence Scale», einem einfachen, validierten Screening-Instrument (4). Ebenso sollen Rückfallrisiko, mögliche Ressourcen sowie die Motivation zur Verhaltensänderung beurteilt werden. 

Behandlung

Einsicht und Kooperationsbereitschaft der betroffenen Person sind für den Behandlungserfolg entscheidend. Fehlen diese, kommt es häufig zum sogenannten «Doctor Shopping», d.h. es werden gleichzeitig mehrere Ärztinnen und Ärzten aufgesucht, von welchen parallel Medikamente bezogen werden. Fehlt die Motivation für eine Verhaltensänderung, so wird empfohlen, mit Hilfe von motivierenden Gesprächstechniken daran zu arbeiten. Ist die Person zu einer Verhaltensänderung bereit, so gibt es zwei mögliche Vorgehensweisen:

 -         Benzodiazepin-Entzug mit dem Ziel der Abstinenz

-          Benzodiazepin-Erhaltungstherapie

 Die Wahl des Vorgehens richtet sich nach der Risikoeinschätzung. Bei einem insgesamt niedrigen Risiko kann die Behandlung in der Grundversorgung erfolgen. In diesen Fällen lohnt es sich meist, einen Entzug anzustreben. Bei hohem Risiko ist es ratsam, spezielle Behandlungsangebote für Suchterkrankungen in Anspruch zu nehmen – hier kann eine stabilisierende Benzodiazepin-Erhaltungstherapie indiziert sein.

Die im folgenden beschriebene allgemeine Behandlungsprinzipien gelten für beide Vorgehensweisen.

Kontrollierte Medikamentenabgabe

Eine kontrollierte Abgabe der täglichen Medikamenten-Ration – gegebenenfalls in Zusammenarbeit mit einer lokalen Apotheke – und regelmässige klinische Kontrollen (z.B. alle zwei Wochen) wirken unterstützend. 

Benzodiazepin-Wechsel

Gewisse Benzodiazepine – beispielsweise Alprazolam oder Flunitrazepam – scheinen ein höheres Missbrauchs- und Abhängigkeitspotential aufzuweisen, oft sind dieselben Substanzen auch gefährlicher bei Überdosierung. Dafür gibt es mehrere Gründe: die subjektiv unterschiedlich wahrgenommene Wirkung, insbesondere bei Überdosierung, die unterschiedliche Potenz relativ zur Dosierung, die verschieden langen Halbwertszeiten (eine kürzere Halbwertszeit ist eher ungünstig) und das Ausmass der Entzugserscheinungen. Deshalb werden in einem ersten Schritt häufig Benzodiazepine mit einer kurzen durch solche mit einer langen Halbwertszeit ersetzt, beispielsweise Alprazolam durch Diazepam (Valium® u.a.). Mit Hilfe von Umrechnungstabellen kann die Dosierung verschiedener Benzodiazepine in sogenannte Diazepam-Äquivalente umgerechnet werden (vgl. Tabelle 1).

Beim Ausschleichen von Benzodiazepinen mit langer Halbwertzeit scheint das Risiko eines Behandlungsabbruchs etwas geringer zu sein. Allerdings ist die Datenlage zu diesem Thema nicht besonders gut und es gibt Studien, die zeigen, dass auch ein langsames Ausschleichen von Benzodiazepinen mit kurzer Halbwertszeit gelingen kann (5).

 

Therapie-Überwachung

Sicherzustellen, dass die behandelte Person nicht bei verschiedenen Ärzten und Ärztinnen Benzodiazepine bezieht, also kein sogenanntes «Doctor Shopping» betreibt, wäre grundsätzlich sinnvoll. In der Schweiz stehen uns dazu kaum geeignete Instrumente zur Verfügung. In anderen Ländern sieht die Situation teilweise anders aus – so kann beispielsweise in Australien im Rahmen eines speziellen Programms die Einsicht in die landesweiten, personalisierten Verschreibungsdaten verlangt werden. Allerdings braucht es die Einwilligung der betroffenen Person, und illegal oder in einem anderen Land erworbene Substanzen sind nicht erfasst.

 

Urintests auf Benzodiazepine sind zur Überwachung der Therapietreue nur bedingt geeignet. Das Hauptproblem liegt darin, dass das Vorhandensein von aktiven Metaboliten fälschlicherweise den Konsum anderer Benzodiazepine vortäuschen kann. Urintests sollten eher als Instrument zur Steigerung von Motivation und Selbstverantwortung als zur Kontrolle verwendet werden.

Benzodiazepin-Entzug mit dem Ziel der Abstinenz

Die Erfolgsraten bezüglich langfristiger Benzodiazepin-Abstinenz nach Entzug variieren stark. Sie reichen von 25% bei einer komplexen Abhängigkeitserkrankung bis zu 80% für ältere Individuen in der Grundversorgung.

Da nach einer Dauertherapie mit Benzodiazepinen von mindestens 1-6 Monaten bei plötzlichem Absetzen lebensbedrohliche epileptische Anfälle auftreten können, müssen Benzodiazepine langsam – in der Regel über mindestens 10 Wochen –  ausgeschlichen werden (5). Standardregimes existieren nicht – generell gilt, dass der benötigte Zeitrahmen von der Ausgangsdosis, dem Rezidiv-Risiko und dem Ausmass der Entzugserscheinungen abhängt. Höhere Dosen von mehr als 10 mg Diazepam-Äquivalenten können in der Regel schneller reduziert werden als solche von weniger als 10 mg Diazepin-Äquivalenten. Das Rezidiv-Risiko ist geringer bei Personen, bei denen die Ausgangsdosis 10 mg Diazepin-Äquivalenten oder weniger beträgt, sowie bei denjenigen, denen es von sich aus bereits gelungen ist, die Dosis zu reduzieren. Des Weiteren sprechen ein geringer Grad der Abhängigkeit, keine früheren Entzugsversuche, eine hohe Lebenszufriedenheit und kein zusätzlicher Alkoholkonsum für eine günstige Prognose (6). Personen ohne instabile psychiatrische oder internistische Begleiterkrankungen, ohne epileptische Anfälle in der Vorgeschichte und ohne zusätzliche Suchtproblematik weisen ein geringeres Risiko für schwere Entzugserscheinungen auf.

Die Symptome, die im Rahmen des Entzuges auftreten können, sind denjenigen der Grunderkrankung (Schlaflosigkeit, Angststörungen) oft sehr ähnlich (vgl. Tabelle 2). Dies sollte mit den Betroffenen vorgängig unbedingt thematisiert werden.

Unter der Voraussetzung, dass keine weiteren Medikamentenabhängigkeiten bestehen, kann eine medikamentöse Unterstützung mit Carbamazepin (Tegretol® u.a.) oder Pregabalin (Lyrica® u.a.) in Erwägung gezogen werden (5,7). Möglicherweise ist auch eine niedrigdosierte Infusionstherapie mit Flumazenil (Annexate®), einem GABA-Rezeptorantogonisten, gegen Entzugserscheinungen wirksam (8). Da diese Behandlung nicht ganz ungefährlich ist, sollte sie jedoch nur in einem dafür spezialisierten Rahmen durchgeführt werden. Ein Nutzen von Antidepressiva oder Betablockern ist nicht belegt.

Gemäss einer Meta-Analyse kann die Erfolgsrate eines Benzodiazepin-Entzuges mit begleitender Psychotherapie verbessert werden (9). In einer neulich erschienenen Cochrane-Review wurden verschiedene psychosoziale Interventionen untersucht – nur für die kognitive Verhaltenstherapie konnte ein (mässiggradiger) Nutzen nachgewiesen werden, zur Beurteilung anderer Interventionen lagen zu wenig Daten vor (10).

Benzodiazepin-Erhaltungstherapie

Ein Teil der Benzodiazepin-Abhängigen lehnt einen Entzug komplett ab oder weist ein zu hohes Rückfall- bzw. Nebenwirkungsrisiko auf. Letzteres trifft vor allem auf Personen mit einem Konsum von sehr hohen Dosen, zusätzlichen psychiatrischen Erkrankungen (insbesondere weitere Abhängigkeiten), «aberrant drug-related behaviours» (insbesondere «Doctor-Shopping») und in ungünstigen sozialen Verhältnissen zu.

Hier ist ein schadensbegrenzendes Vorgehen häufig vorzuziehen. Dabei werden die Betroffenen auf ein langwirksames Benzodiazepin in stabiler Dosis eingestellt und parallel dazu versucht, die Gesamtsituation zu stabilisieren, z.B. mit regelmässigen Gesprächen, sozialen Massnahmen oder komplementärmedizinischen Ansätzen. Ein Entzug soll erst dann in Betracht gezogen werden, wenn eine entsprechende Stabilisierung erreicht ist. Da solche Personen erfahrungsgemäss nur sehr schwer behandel- und führbar sind, ist das Beiziehen von geeigneten spezialisierten Stellen (z.B. Suchtambulanzen, soziale Dienste) ratsam. Allenfalls kann auch ein stationärer Entzug sinnvoll sein.

Standpunkte und Meinungen

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Benzodiazepin-Abhängigkeit (28. März 2016)
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