Propranolol für infantile Hämangiome
- Autor(en): Urspeter Masche
- pharma-kritik-Jahrgang 37
, Nummer 4, PK962
Redaktionsschluss: 24. Juni 2015
DOI: https://doi.org/10.37667/pk.2015.962 - PDF-Download der Printversion dieser pharma-kritik Nummer
Ein neues Propranolol-Präparat (Hemangiol®) wird zur oralen Behandlung von infantilen Hämangiomen angeboten.
Chemie/Pharmakologie
Infantile Hämangiome, in etwa 60% der Fälle am Kopf oder Hals lokalisiert, sind die häufigsten gutartigen Tumoren im Säuglingsalter. Sie entwickeln sich kurz nach Geburt und können innerhalb weniger Monate eine erhebliche Grösse erreichen. Meistens bilden sie sich während der folgenden Jahre allmählich zurück, ohne relevante Veränderungen zu hinterlassen. Einer Behandlung bedürfen namentlich Hämangiome, die mit einer Ulzeration einhergehen oder aufgrund ihrer anatomischen Lage (Augenbereich, Atemwege) mit Komplikationen drohen. Es wurde mit verschiedenen Methoden experimentiert – Medikamenten (Steroiden u.a.), Laser-Behandlung, chirurgischer Resektion –, von denen sich aber keine als Standard etabliert hat. Per Zufall entdeckte man, dass Propranolol die Rückbildung von Hämangiomen befördert. Man nimmt an, dass die Betablockade zu einer Vasokonstriktion führt, die Angiogenese hemmt und die Apoptose begünstigt – was im Zusammenspiel dem Hämangiomwachstum entgegenwirkt.(1) Auch andere Betablocker scheinen sich für die Hämangiombehandlung zu eignen.(2)
Pharmakokinetik
Die Pharmakokinetik von Propranolol ist bei Kindern wenig untersucht; die Erwachsenendaten dürften sich aber grosso modo übertragen lassen. Nach Einnahme von Propranolol misst man binnen 1 bis 2 Stunden den Plasmaspitzenwert. Die biologische Verfügbarkeit beträgt wegen eines deutlichen «First-Pass»-Effekts im Durchschnitt nur 25%. Zu über 80% wird Propranolol über Zytochrome (CYP2D6, in geringerem Mass auch CYP1A2 und CYP2C19) abgebaut; der Rest wird direkt glukuronidiert. Die Propranolol-Metaboliten werden mit dem Urin ausgeschieden. Die Halbwertszeit von Propranolol liegt zwischen 3 und 6 Stunden.(3)
Klinische Studien
Die bisherigen Erkenntnisse, die man sich bei der Hämangiombehandlung mit Propranolol angeeignet hat, stammen mehrheitlich von Kindern, die das Mittel zum Beispiel in einem «Compassionate-use»-Programm bekommen haben, und sind in Fallberichten oder -serien veröffentlicht.(4)
Die Zulassung stützt sich auf eine einzige Phase-2/3-Studie. 456 Säuglinge im Alter von 5 Wochen bis 5 Monaten, die ein behandlungsbedürftiges Hämangiom aufwiesen, wurden doppelblind auf fünf Gruppen verteilt: in vier wurde Propranolol in unterschiedlicher Dosis und Therapiedauer verabreicht (1 mg pro kg undTag über 3 oder 6 Monate; 3 mg/kg/Tag über 3 oder 6 Monate), in der fünften Placebo. Die Untersuchung wurde als Dosisfindungsstudie begonnen («Phase 2»). Als die ersten 188 Individuen behandelt waren, fand eine Interimsanalyse statt; sie zeigte einzig für die höherdosierte, 6-monatige Propranolol-Gabe einen signifikanten Effekt, weshalb für den eigentlichen Wirksamkeitsnachweis («Phase 3») nur dieses Propranolol-Dosierungsschema berücksichtigt wurde. Der primäre Studienendpunkt galt als erfüllt, wenn das Hämangiom vollständig oder fast vollständig verschwunden war. Dies wurde mit Propranolol (3 mg/kg/Tag über 6 Monate) bei 60% der Säuglinge erreicht, mit Placebo bei 4%.(5) In einer anderen Doppelblindstudie (n=39) liess sich das durchschnittliche Hämangiomvolumen mit Propranolol (2 mg/kg/Tag) um 60% und mit Placebo um 14% reduzieren.(6)
In zwei kleinen Einfachblindstudien wurde Propranolol mit Prednisolon verglichen. In der einen Studie (n=19) liess sich zwischen Propranolol und Prednisolon bezüglich Grössenabnahme der Hämangiome kein signifikanter Unterschied feststellen.(7) In der anderen Studie (n=30) war die Wirkung von Propranolol etwas ausgeprägter als diejenige von Prednisolon.(8)
Unerwünschte Wirkungen
Die unter der Hämangiombehandlung beobachteten Nebenwirkungen fügen sich in das bisher bekannte Bild ein. So kann Propranolol kardiovaskuläre Probleme verursachen (Blutdruck- und Pulsabnahme, Kältegefühl an den Extremitäten), Bronchospasmen, gastrointestinale Beschwerden (Erbrechen, Durchfall, Verstopfung, Bauchschmerzen), neuropsychiatrische Symptome (Schwindel, Somnolenz, Schlafstörungen, Alpträume, Agitiertheit, Reizbarkeit) und Hautreaktionen (Erythem u.a.). Durch die adrenerge Blockade kann Propranolol zu einer Hypoglykämie beitragen bzw. deren Symptome maskieren – eine Gefahr, die umso grösser ausfällt, je jünger ein behandelter Säugling ist.
Interaktionen
Geläufig sind die pharmakodynamischen Interaktionen von Propranolol mit anderen Herz-Kreislauf-Mitteln, die entweder die Herzfrequenz oder den Blutdruck senken. Möglichkeiten pharmakokinetischer Interaktionen ergeben sich in Kombination mit Hemmern oder Induktoren von CYP2D6 und der anderen am Propranolol-Abbau beteiligten Zytochrome. Da sich die Hämangiombehandlung aber auf kleine Kinder beschränkt, sind diese Interaktionen mehr theoretischer Natur.
Dosierung, Verabreichung, Kosten
Propranolol (Hemangiol®) dient zur Behandlung von infantilen Hämangiomen, die ulzerieren, Vitalfunktionen gefährden oder eine bleibende Entstellung befürchten lassen. Es wird in Form einer 0,375%igen Lösung angeboten, die per Dosierspritze oral verabreicht wird. Die Anfangsdosis beträgt gemäss Fachinformation 1 mg/kg/Tag, die auf die Erhaltungsdosis von 3 mg/kg pro Tag gesteigert werden soll. Die Tagesmenge ist auf zwei Dosen zu verteilen. Amerikanische Richtlinien weichen etwas davon ab und empfehlen, die Erhaltungsdosis nach dem individuellen Ansprechen auszurichten und die Tagesmenge auf drei Dosen zu verteilen.(9) Die angegebene Behandlungsdauer beträgt 6 Monate. Weil als «Erstdosiseffekt» eine Hypotonie oder Bradykardie auftreten kann, sollten Behandlungsbeginn bzw. Dosiserhöhungen von Blutdruck- und Pulskontrollen begleitet sein. Wegen des Hypoglykämie-Risikos darf Propranolol nur zusammen mit einer Mahlzeit verwendet werden und nur wenn eine regelmässige Nahrungsaufnahme gewährleistet ist. Kinder, bei denen eine Propranolol-Therapie geplant ist, sollten internmedizinisch gesund sein.
Ein Fläschchen des Propranolol-Präparates (120 ml) kostet CHF 327.70. Diese Menge reicht bei einem 5 kg schweren Säugling für einen Monat, mit zunehmendem Gewicht des Kindes entsprechend kürzer. Es besteht keine Kassenpflicht.
Kommentar
Es hat etwas Gewinnendes, dass Propranolol dank einer Zufallsbeobachtung zu neuen Ehren findet. Altbewährte Substanzen bieten immer den Vorteil, dass ihre Risiken gut abzuschätzen sind. Auch wenn sich Propranolol als «elegante» Methode zur Hämangiombehandlung anzubieten scheint, darf nicht übersehen werden, dass diese Therapieform nicht in genügendem Mass systematisch aufgearbeitet ist (was für die Behandlung infantiler Hämangiome generell gilt). So existieren weder Daten, die einen fundierten Vergleich zwischen Propranolol und anderen Behandlungsmethoden ermöglichen, noch ist bislang klar erfasst, wie lange zum Beispiel Propranolol idealerweise verabreicht werden sollte.
Die Propranolol-Behandlung mit Hemangiol® wirkt vergleichsweise teuer, umso mehr als sich keine hohen Forschungs- oder Entwicklungskosten erkennen lassen. Als kostengünstige Alternative würde sich eine Propranolol-Lösung oder -Suspension nach einer pädiatrischen Magistralrezeptur anbieten, wie sie durch Spitalapotheken für Kinderabteilungen hergestellt werden (Beispiel unter http://goo.gl/s21C4i).
Literatur
- 1) Starkey E, Shahidullah H. Arch Dis Child 2011; 96: 890-3
- 2) Itinteang T et al. Front Surg 2014; 1: 38
- 3) Dokument der «European Medicines Agency»: http://goo.gl/lMt6KQ
- 4) Marqueling AL et al. Pediatr Dermatol 2013; 30: 182-91
- 5) Léauté-Labrèze C et al. N Engl J Med 2015; 372: 735-46
- 6) Hogeling M et al. Pediatrics 2011; 128: e259-66
- 7) Bauman NM et al. JAMA Otolaryngol Head Neck Surg 2014; 140: 323-30
- 8) Malik MA et al. J Pediatr Surg 2013; 48: 2453-9
- 9) Drolet BA et al. Pediatrics 2013; 131: 128-40
Standpunkte und Meinungen
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