Nalmefen
- Autor(en): Alexandra Röllin
- pharma-kritik-Jahrgang 36
, Nummer 8, PK937
Redaktionsschluss: 20. Oktober 2014
DOI: https://doi.org/10.37667/pk.2014.937 - PDF-Download der Printversion dieser pharma-kritik Nummer
Nalmefen (Selincro®) ist ein selektiver Modulator der Opioid-Rezeptoren, der zur Reduktion des Alkoholkonsums bei Erwachsenen mit Alkoholabhängigkeit empfohlen wird.
Chemie/Pharmakologie
Nalmefen wirkt an den μ- und δ-Opioidrezeptoren als kompletter Antagonist und als partieller Agonist an den κ-Rezeptoren. Der genaue Wirkmechanismus bei Alkoholabhängigkeit ist nicht bekannt, doch die Substanz soll einen hemmenden Effekt auf das mesolimbische Belohnungssystem haben, das bei Alkoholabhängigkeit über positive Rückkoppelung verstärkend wirkt.
Im Vergleich zum chemisch verwandten Naltrexon (Naltrexin®) weist Nalmefen eine längere Halbwertszeit und eine deutlich längere Verweildauer an den Opioidrezeptoren auf. Während Naltrexon zur täglichen Einnahme und Rückfallprophylaxe nach einem kompletten Alkohol- oder Opiatentzug zugelassen ist, kann Nalmefen nach Bedarf und bei Personen, welche weiterhin Alkohol konsumieren, zur Verringerung der Trinkmenge eingesetzt werden.(1)
Pharmakokinetik
Nach oraler Einnahme wird der maximale Plasmaspiegel nach ungefähr 1,5 Stunden erreicht. Die orale Bioverfügbarkeit beträgt 41% und kann durch gleichzeitige Nahrungsaufnahme auf 53% erhöht werden. Nalmefen wird zum grössten Teil zum inaktiven Hauptmetaboliten Nalmefen-3-O-Glukuronid abgebaut. Dies geschieht ohne Beteiligung von Zytochromen – nur ein geringer Anteil wird über CYP3A4 in das ebenfalls inaktive Nornalmefen umgewandelt. Die Abbauprodukte werden hauptsächlich im Urin ausgeschieden. Die terminale Halbwertszeit wird auf 12,5 h geschätzt. Da die Substanz eine sehr starke Affinität zu den Opioidrezeptoren aufweist, sind nach 26 Stunden noch immer 83-100% der Opioidrezeptoren besetzt, was zu einer vergleichsweise langen Wirkungsdauer führt. Bei leichter oder mässiggradiger Leberfunktionsstörung werden 1,5- bis 2,9-mal höhere Plasmaspiegel als bei Gesunden erreicht.(1)
Klinische Studien
Der Opioidantagonist Nalmefen ist schon seit den 1970er-Jahren bekannt; die frühesten Studien zur Behandlung der Alkoholabhängigkeit wurden in den 90er-Jahren durchgeführt. In den ersten, teilweise sehr kleinen Studien wurde es täglich, in ganz unterschiedlichen Dosen und mit ganz unterschiedlichen Endpunkten verabreicht. In Dosisfindungs-Studien konnte festgestellt werden, dass die ideale Tagesdosis bei 18 mg liegt. Während Nalmefen initial noch jeden Tag verabreicht wurde, hat man später die Einnahme nach Bedarf geprüft.(1,2,3)
In drei Phase-3-Studien wurde Nalmefen schliesslich in der Dosis und Anwendung untersucht, die jetzt empfohlen werden. In allen drei wurden dieselben zwei primären Endpunkte verwendet: Die Anzahl der Tage mit übermässigem Alkoholkonsum («heavy drinking days»; HDD), definiert als die Anzahl der Tage mit einem Alkoholkonsum von ≥60 g/d für Männer und ≥40 g/d für Frauen, sowie den durchschnittlichen täglichen Alkoholkonsum über 28 Tage, gemessen in g/l («total alcohol consumption»; TAC). Beides sind von den Behandelten retrospektiv selbst erfasste Surrogat-Endpunkte. Gemäss gewissen epidemiologischen Modellen soll eine Reduktion dieser Werte mit einer verminderten Morbidität und Mortalität bei Alkoholabhängigkeit einhergehen, trotzdem kann daraus nicht notwendigerweise auf einen klinisch relevanten Nutzen geschlossen werden.
In den beiden Studien ESENSE I und II wurde Nalmefen bei Bedarf (maximal 18mg pro Tag) während 6 Monaten mit Placebo verglichen. Beide Gruppen erhielten zusätzlich eine psychosoziale Begleitung in der Form einer klar definierten Kurzintervention. In ESENSE I (n= 604) verringerten sich in der Nalmefen-Gruppe im Laufe der 6 Monate die HDD von 19 auf 7 Tage pro Monat und der TAC von 84 g/d auf 30 g/d. Allerdings reduzierten sich auch in der Placebogruppe die HDD von 20 auf 10 Tage pro Monat und der TAC von 85 g/d auf 43 g/d. Damit betrug der absolute Nutzen für Nalmefen nur noch -2,3 für HDD und -11,0 g/d für TAC.(4) Die Resultate für ESENSE II (n = 718) bewegten sich in einem vergleichbaren Rahmen, mit dem Unterschied, dass hier der Nutzen zugunsten von Nalmefen für TAC (-4,9 g/d) nicht statistisch signifikant war.(5) Aufgrund der Tatsache, dass viele der Untersuchten bereits in den zwei Wochen zwischen Studieneinschluss und Behandlungsbeginn ihren Alkoholkonsum deutlich reduziert hatten, was die Möglichkeit einer zusätzlichen Verbesserung verminderte, wurde eine primär nicht geplante Subgruppen-Analyse vorgenommen. In dieser wurden nur die Daten der Personen aus den beiden ESENSE-Studien ausgewertet, die zum Zeitpunkt des Behandlungsbeginns immer noch einen hohen Risiko-Konsum (für Männer >60 g/d und für Frauen >40 g/d) aufwiesen. Erwartungsgemäss konnte so ein etwas grösserer Nutzen zugunsten von Nalmefen gezeigt werden (-3,7 für HDDs und -18,3 g/d für TAC in ESENSE I; -2,7 für HDDs und -10,3 g/d für TAC in ESENSE II). Zu beachten ist allerdings, dass die Fallzahlen in der Subgruppenanalyse möglicherweise zu klein sind, um aussagekräftig zu sein.(6)
Die 12 Monate dauernde SENSE-Studie (n=422) war primär darauf ausgelegt, die Verträglichkeit des Medikamentes zu untersuchen. Auch hier war der gezeigte Netto-Nutzen für Nalmefen gering und nicht für alle Zeit- und Endpunkte statistisch signifikant.(7)
Zu erwähnen ist auch, dass es in allen diesen Studien zu vielen Studienabbrüchen gekommen ist. 36 bis 48% der Personen unter Nalmefen haben die Behandlung vorzeitig abgebrochen (26 bis 32% unter Placebo).(4,5,7)
Mit anderen Substanzen, welche ebenfalls zur Behandlung der Alkoholabhängigkeit zugelassen sind, wie Naltrexon, Acamprosat (Campral®) oder Disulfiram (Antabus®), wurde Nalmefen nicht direkt verglichen.
In den USA, Kanada, Mexiko und China ist Nalmefen zur intravenösen Verabreichung zugelassen, im Wesentlichen für die Indikationen, für welche in der Schweiz Naloxon verwendet wird, nämlich hauptsächlich zur Antagonisierung bei Opiatüberdosierung oder postoperativer Atemdepression.
In verschiedenen kleinen Studien wurde Nalmefen ausserdem für ganz unterschiedliche Indikationen geprüft – von der Verwendung zur Neuroprotektion bei Schädelhirntrauma bis zum Einsatz in sehr hoher Dosis bei Spiel- und Kaufsucht.
Unerwünschte Wirkungen
In den oben erwähnten drei Studien traten unter Nalmefen in 75% der Fälle Nebenwirkungen auf (unter Placebo in 63%). Am häufigsten handelte es sich dabei um unspezifische Beschwerden wie Schwindelgefühl, Übelkeit und Schlafprobleme. Insbesondere Übelkeit (18%) und Schwindelgefühl (16%) waren im ersten Monat nach Behandlungsbeginn sehr häufig, später seltener. Bei immerhin 10% der Behandelten traten schwerwiegende Nebenwirkungen auf: Besorgniserregende psychiatrische Störungen wie Verwirrtheitszustände, Denkstörungen oder Halluzinationen waren unter Nalmefen mit 2,9% etwa dreimal so häufig wie unter Placebo.(1,4,5,7) Zu möglichen Langzeit-Nebenwirkungen liegen keine Daten vor. Die längste dokumentierte Anwendungsdauer beträgt 12 Monate. Auch bei Personen mit erheblichen Störungen der Leberfunktion oder psychiatrischer Komorbidität (beides Probleme, welche in der Zielpopulation relativ häufig auftreten dürften) wurde das Medikament nicht untersucht.
Interaktionen
Bei Personen unter Opioid-Therapie kann die Einnahme von Nalmefen ein schweres Entzugssyndrom auslösen und ist deshalb kontraindiziert. Umgekehrt kann eine notwendige Schmerztherapie mit Opioiden bei Vorbehandlung mit Nalmefen nicht oder nur vermindert wirksam sein. Über das Interaktionsrisiko bei der gleichzeitigen Einnahme von hohen Mengen Alkohol ist nichts bekannt. Daten zu weiteren möglichen Interaktionen sind kaum vorhanden. Da Nalmefen nur in geringem Masse über Zytochrome metabolisiert wird, ist das Risiko pharmakokinetischer Interaktionen allerdings gering.(1)
Dosierung, Verabreichung, Kosten
Nalmefen (Selincro®) ist als Filmtabletten zu 18 mg erhältlich und kann von Erwachsenen mit Alkoholabhängigkeit eingenommen werden, bei denen das Behandlungsziel eine Reduktion des Alkoholkonsums und nicht ein kompletter Entzug ist. Eine Behandlung mit Nalmefen soll nur bei Personen eingeleitet werden, deren Alkoholkonsum sich auch 2 Wochen nach einer initialen Untersuchung weiterhin auf einem hohen Risiko-Niveau befindet. Das Medikament wird bei Bedarf eingenommen. An jedem Tag, an dem Betroffene ein Risiko für Alkoholkonsum erkennen, soll eine Tablette möglichst 1 bis 2 Stunden vor dem voraussichtlichen Alkoholkonsum eingenommen werden. Nalmefen ist nicht kassenzulässig. Eine Packung mit 14 Tabletten kostet CHF 105.60. Unter der Annahme, dass das Medikament an ungefähr 50% der Tage eingenommen wird, entspricht der Preis einer Packung gerade etwa den Therapiekosten für einen Monat. Eine Behandlung mit dem kassenzulässigen Naltrexon (50 mg/d, Naltrexin®) täglich über den gleichen Zeitraum ist ähnlich teuer. Eine Packung zu 28 Tabletten kostet hier CHF 105.50
Kommentar
Mit dem Konzept, das Medikament nur bei Bedarf einzunehmen und eine Reduktion des Alkoholkonsums statt einen Entzug anzustreben, wird hier ein neuer Weg bei der Behandlung der Alkoholabhängigkeit eingeschlagen. Dieser bietet zwar ein paar interessante und vielversprechende Aspekte (Fördern der Selbstverantwortung der Betroffenen; auch Personen, die einem kompletten Entzug ablehnend gegenüberstehen, kann etwas angeboten werden), lässt aber auch viele Fragen offen: Rechtfertigt die nur geringe Reduktion des Alkoholkonsums den Aufwand? Und – wäre Abstinenz nicht grundsätzlich das nachhaltigere Ziel? Unabhängig von diesen Überlegungen überzeugt Nalmefen aus verschiedenen Gründen nicht. Denn ob der geringe Nutzen, der nur anhand von Surrogat-Endpunkten aufgezeigt werden konnte, tatsächlich von klinischer Bedeutung ist, bleibt unklar. Generell zeigen Opioidrezeptorantagonisten bei Alkoholabhängigkeit zwar eine gewisse Wirkung, doch selbst beim besser dokumentierten Naltrexon stellt sich diese bei näherer Betrachtung als äusserst bescheiden heraus.(8)Vermutlich spielen bei der Behandlung von Alkoholkranken der psychosoziale Kontext sowie die Motivation und langfristige Begleitung der Betroffenen eine viel wichtigere Rolle als eine medikamentöse Therapie – ein Schluss, der auch durch die erstaunlichen Verbesserungen in den Placebogruppen der oben erwähnten Studien nahegelegt wird. Somit sollte diese Art von Medikamenten – wenn überhaupt – nur eingebettet in ein umfassendes Behandlungskonzept verwendet werden.
Literatur
- 1) EMA-Dokument: http://goo.gl/Fih8BJ
- 2) Anton RF et al. J Clin Psychopharmacol 2004; 2004: 421-8
- 3) Karhuvaara S et al. Alcohol Clin Exp Res 2007; 31: 1179-87
- 4) Mann K et al. Biol Psychiatry 2013; 73: 706-13
- 5) Gual A et al. Neuropsychopharmacol 2013; 23: 1432-42
- 6) Van den Brink W et al. Alcohol Alcohol 2013; 48: 570-8
- 7) Van den Brink W et al. J Psychopharmacol 2014; 28: 733-744
- 8) Rösner S et al. Cochrane Database Syst Rev 2010; 12: CD001867
Standpunkte und Meinungen
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