Strictly Confidential
- Autor(en): Etzel Gysling
- pharma-kritik-Jahrgang 10
, Nummer 05, PK650
Redaktionsschluss: 14. März 1988 - PDF-Download der Printversion dieser pharma-kritik Nummer
ceterum censeo
Dokumente, Daten und Berichte, die Medikamente betreffen, sind oft mit der Bezeichnung «Confidential» versehen. Wenn man beispielsweise etwas von den «Data on File» sehen möchte, die so manches Mal die Literaturliste im Basisprospekt eines neuen Medikamentes zieren, so muss man am ehesten mit einem fotokopierten Text rechnen, der eben die ominöse «Vertraulich»-Bezeichnung trägt. Solange sich ein Medikament in der Prüfungsphase oder im Zulassungsverfahren befindet, ist ja sicher nichts dagegen einzuwenden, dass die zugehörigen Daten nicht allgemein zugänglich sind. Von dem Augenblick an, da das Medikament -- mit oder ohne Rezept -- in der Apotheke erhältlich ist, hat aber die Öffentlichkeit ein vitales Interesse an einer möglichst umfassenden Dokumentation über die Substanz.
Einmal mehr muss ich darauf hinweisen, dass für die pharmazeutische Industrie nicht die gleichen Regeln wie für einen anderen Industriezweig gelten können. Arzneimittel sind nicht Konsumgütern gleichzusetzen, bei deren Auswahl jeder einzelne freie Hand hat. Patientinnen und Patienten sollten die Gewissheit haben, dass der Ärzteschaft Vor- und Nachteile eines Medikamentes so genau wie möglich bekannt sind.
Tatsächlich erhalten wir zu den positiven Aspekten der Medikamente fortlaufend neue Mitteilungen. Es ist eine der wichtigsten Aufgaben des ständig wachsenden Heeres der Ärztebesucher, den Medizinalpersonen von den besonderen Vorteile ihrer «Produktelinie» zu berichten. Auch die vielen sogenannten Fachzeitschriften, die uns gratis zugestellt werden, verdanken ihre Existenz dem Bedürfnis der Industrie, erwünschte Eigenschaften von Medikamenten hervorzuheben.
Nebenwirkungen, Interaktionen und auch die von modernen Therapeutika verursachte Kostensteigerung werden dagegen viel diskreter behandelt. Besonders arm an verlässlichen Informationen sind wir dann, wenn wir die relative Häufigkeit von medikamentös induzierten Problemen bestimmen möchten. Wenn wir beispielsweise wüssten, wie häufig verschiedene Antirheumatika schwere Magenblutungen verursachen, so besässen wir ein ausgezeichnetes Auswahl-Kriterium. Um aber die relative Häufigkeit von Nebenwirkungen errechnen zu können, müssten uns auch die Verkaufszahlen bekannt sein. Wenige Grössen werden jedoch so streng als Insiderwissen gehütet wie die Verkaufszahlen.
Natürlich glaube ich nicht, dass wir aus dem «Umsatz» eines Medikamentes seine relative Gefährlichkeit bzw. Verträglichkeit genau bestimmen könnten. Mehrere Grössen, die für eine eindeutige Risikoeinschätzung notwendig sind (Compliance, Melde-Dunkelziffer u.a.), können vom einen zum anderen Medikament erheblich variieren. Dennoch wäre es nützlich, wenigstens mit approximativen Werten rechnen zu können. Ein (fiktives) Beispiel: Wenn jährlich etwa gleich viele Magenblutungen unter Diclofenac (Voltaren® u.a.) wie unter Phenylbutazon (Butazolidin ® u.a.) bekannt werden, vom letzteren Medikament aber fünfmal weniger verkauft werden, so darf man sicher auf eine bessere Magen-Verträglichkeit von Diclofenac schliessen. Da uns heute in so vielen Bereichen mehr oder weniger gleichwertige therapeutische Alternativen zur Verfügung stehen, liessen sich beliebig viele weitere Beispiele anführen. In der Schweiz und vielen anderen Ländern gehören aber, wie gesagt, Verkaufszahlen zu den Industrie-Geheimnissen. Es muss festgehalten werden, dass uns damit ein wichtiges Element der Behandlungsoptimierung vorenthalten wird.
Auch die Art und Weise, wie in der Schweiz «vertraulich» mit Meldungen über unerwünschte Medikamentenwirkungen umgegangen wird, bereitet mir Sorgen. Die Hoffnung, dass von der Schweizerischen Arzneimittel-Nebenwirkungs- Zentrale (SANZ) kräftige Impulse ausgehen würden, hat sich nicht erfüllt. Dass die SANZ nicht ganz zu Unrecht als Alibi-Institution bezeichnet wird, liegt nicht am medizinischen Leiter dieser Meldestelle, welche eine eminent wichtige Funktion erfüllen könnte. Vielmehr ist heute offensichtlich, dass der SANZ oft gerade dann, wenn sie aktiv werden sollte, die Hände gebunden sind. Die Schweizer Pharma-Industrie, welche die SANZ grossenteils finanziert, übt hier einen «moderierenden» Einfluss aus. Im Gegensatz zu mehreren Nebenwirkungs-Meldestellen des Auslandes, welche regelmässig konkrete Hinweise auf mögliche Arzneimittel-Probleme publizieren, veröffentlicht die SANZ (von seltenen Ausnahmen abgesehen) nur einen jährlichen Bericht, der zudem sehr wenig praktisch anwendbare Informationen enthält. Ich weiss, dass Meldungen über Nebenwirkungen jeweils von der SANZ und der betroffenen Herstellerfirma sehr sorgfältig registriert und beantwortet werden. Eine Nebenwirkungs- Meldestelle darf sich aber nicht auf diese Funktion beschränken, sondern sollte eine aktive Rolle in der Verhütung unerwünschter Wirkungen ausüben.
Das britische «Committee on Safety of Medicines», welches regelmässig eigene Berichte («Current Problems») veröffentlicht, könnte hier als gutes Beispiel dienen. Auch zu der schwierigen Frage, welche unerwünschten Wirkungen rapportiert werden sollen, gibt es in Grossbritannien Hilfestellung. Medikamente, von denen möglichst alle Nebenwirkungen gemeldet werden sollen, sind in allen Dokumenten mit einem schwarzen Dreieck gekennzeichnet.
Selbst auf das Risiko hin, gelegentlich einer falschen Fährte zu folgen, sollten wir rasch von neu beobachteten Nebenwirkungen Kenntnis erhalten. Es muss unbedingt vermieden werden, dass Nebenwirkungen «streng vertraulich» behandelt werden. Ob es gelingt, der SANZ unter den heute gültigen «Besitzverhältnissen» die nötige Unabhängigkeit zu verschaffen, erscheint mir fraglich. Ich bin aber überzeugt, dass wir uns auch in der Schweiz ein unabhängiges, aktives Nebenwirkungszentrum leisten sollten.
Etzel Gysling
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