Negativlisten: der falsche Weg
- Autor(en): Etzel Gysling
- pharma-kritik-Jahrgang 16
, Nummer 07, PK487
Redaktionsschluss: 14. April 1994 - PDF-Download der Printversion dieser pharma-kritik Nummer
ceterum censeo
Nicht zu Unrecht sind auch in der Schweiz die hohen Arzneimittelkosten unter Beschuss geraten. Zwar trifft es zu, dass ihr Anteil an den gesamten Gesundheitskosten in der Schweiz mit rund 12% nicht besonders hoch liegt. Die Steigerung in den letzten Jahren - von etwa 2,5 Milliarden im Jahr 1988 auf 3,5 Milliarden Franken im Jahr 1993 - ist aber eindrucksvoll. Es leuchtet daher ein, dass die scheinbar unaufhaltsame Steigerung gebremst werden müsste. Neuerdings sind sogenannte Negativlisten, die über viele Jahre eine Art Schattendasein geführt haben, plötzlich zum scheinbar geeignetsten Instrument zur Kosteneindämmung erklärt worden.
Negativlisten enthalten nach der Definition der Krankenkassen «Medikamente, Präparate, Sanitätsartikel und medizinische Hilfsmittel, welche von den Krankenkassen nicht übernommen werden und deshalb vom Anbieter dem Versicherten direkt verrechnet werden müssen». Zu dieser Kategorie von «Nichtpflichtleistungen» gehören unter anderem Medikamente, für die Publikumsreklame bewilligt ist; Medikamente, die zur Prävention von Krankheiten oder zur Empfängnisverhütung dienen; Badezusätze; Medikamente zur Pflege von Kontaktlinsen und einige andere.
Leserinnen und Leser, denen unser Blatt schon lange vertraut ist, erinnern sich vielleicht an meinen Kommentar zu «positiven und negativen Listen» aus dem Jahr 1985. Seither hat sich die Situation insofern verändert, als Negativlisten viel sturer durchgesetzt werden. Eine neue Beurteilung drängt sich auf. Um es vorweg zu nehmen: ich halte Negativlisten für einen besonders schlechten Weg zur Kostenreduktion.
Seit Jahren verteidige ich die Prinzipien einer rationalen Pharmakotherapie. Eben erst hat unsere Gruppe ein Buch herausgegeben, das die Tugenden eines eingeschränkten Arzneimittelsortimentes herausstreicht. Was kann mich veranlassen, eine nach den oben genannten Kriterien erstellte Negativliste abzulehnen?
Das wichtigste Argument gegen Negativlisten ist meines Erachtens die Tatsache, dass solche Listen nicht nach den Überlegungen einer rationalen Pharmakotherapie zusammengestellt sind. Vorwiegend nach Finanzkriterien denkt mir die Negativliste gewissermassen vor, was «richtige» (sozusagen positive) und was negativ gewertete (minderwertige?) medizinische Massnahmen sind. Ich gebe zu, dass ich hier eine Art von «gut feeling» zum Ausdruck bringe. Tatsächlich ist es aber so, dass eine Negativliste (sofern sie wirklich appliziert wird) mich in der Freiheit, die mir adäquat erscheinende Medizin zu verschreiben, einschränkt. Ich halte es für ganz und gar absurd, dass ich beispielsweise ohne weiteres das teuerste Doxycyclin-Präparat (Vibramycin®) verschreiben kann, dass aber mein Patient oder meine Patientin bestraft wird, wenn ich ein Präparat wie Kafa® verschreibe, für das Publikumswerbung gemacht wird.
Ein anderes Beispiel: es ist gar nicht so selten, dass ich jemandem nach einer akuten Erkrankung ein Multivitaminpräparat verschreiben möchte. Natürlich ist mir bewusst, dass beim Nutzen eines solchen Mittels ein ausgeprägter Placeboeffekt mitspielt. Oft entspricht aber die Frage nach einem «Stärkungsmittel» einem echten Bedürfnis. Andere Ärzte mögen andere Mittel bevorzugen: ist das wirklich so schlecht und müssen solche therapeutische Massnahmen unbedingt als negativ eingestuft werden? Es will mir nicht einleuchten, weshalb die medizinisch geschulte Person, die sich täglich für ihre Patientinnen und Patienten einsetzt, nicht über den individuellen Nutzen eines Medikamentes entscheiden kann, wenn es sich um ein Präparat aus einer bestimmten Kategorie handelt. (Es ist ja im übrigen nicht anzunehmen, dass es sich bei den freiverkäuflichen Präparaten um minderwertige Mittel handelt.)
In die Negativliste gehören unter anderem «Medikamente, die zur Prävention von Krankheiten ... dienen». Wer nicht selbst praktiziert, weiss nicht, wie mühsam es sein kann, eine Krankenkasse davon zu überzeugen, dass Chloroquin (z.B. Nivaquine®) nicht nur zur Malariaprophylaxe, sondern auch zur Behandlung von Krankheiten verwendet wird. In diesem Zusammenhang stellt sich natürlich auch die Frage, was denn die Begriffe «Krankheit» und «Prävention» bedeuten. Ein Mensch leidet ja primär gar nicht an einem zu hohen Blutdruck oder an zu hohen Cholesterinwerten. Dennoch wird die entsprechende Behandlung -- Prävention von Komplikationen -- diskussionslos bezahlt. Den Komplikationen einer Malaria oder einer Tetanus-Infektion vorzubeugen, ist dagegen ein mit negativen Vorzeichen versehenes Privatvergnügen.
Negativlisten orientieren sich nicht an rationaler Pharmakotherapie, sondern an äusseren Kriterien wie Publikumswerbung oder Erhältlichkeit in Drogerien. So entsteht für mich der Eindruck, Negativlisten seien fast nie konsequent. Wenn man beispielsweise nach einer «Rheumasalbe» Ausschau hält, wird man fast mit Sicherheit die eine oder andere finden, die von der Krankenkasse bezahlt wird, während andere aus (nicht-therapeutischen Gründen) abgelehnt wird. Oft sind es einfache, zuverlässige Mittel, denen die Gnade der Kasse verweigert wird.
Eine besondere Abneigung scheinen die für Negativlisten Verantwortlichen gegen Mittel zu hegen, die zur Behandlung ohne massiven Chemieeinsatz dienen können. Warum darf es nicht mein Entscheid sein, einmal Euceta® mit Kamille und Arnika (Negativliste) statt z.B. des viel teureren Felden® -Gels (kassenzulässig) zu verordnen? Wespharma. halb soll ich nicht einmal Meersalz für Bäder (Negativliste) verschreiben statt eines Schwefelbad-Zusatzes wie Thiorubrol® (kassenzulässig)? Viele weitere Beispiele liessen sich anführen, die alle zeigen, dass sich eine Therapie mit Mitteln aus einer Negativliste durchaus vertreten lässt.
Man könnte meinen, unsere Krankenkassen hätten es mit ungewöhnlich verschreibungswütigen Ärzten und mit hoffnungslos pillensüchtigen Kranken zu tun. Dabei ist genau das Gegenteil der Fall: Bekanntlich wird ja ein beträchtlicher Teil der Medikamente ohne Rezept, über den Tisch der Apotheken und Drogerien (daher die Bezeichnung OTC: over the counter) erworben, ohne dass die Krankenkassen auch nur einen Rappen beitragen müssen. Es gibt kein anderes Land, in dem der relative Anteil der OTC-Medikamente so hoch ist wie in der Schweiz! Diese Tatsache macht doch offensichtlich, dass die Schweizerin und der Schweizer die Krankenkasse durchaus nicht missbrauchen.
Was die Verschreibungsgewohnheiten der Schweizer Ärztinnen und Ärzte anbelangt, hat erst vor wenigen Monaten eine Studie offenbart, dass bei uns sehr zurückhaltend konservativ verordnet werde. Dass wir in der Schweiz nicht jedem Modemittel gleich auf den Leim gehen, ehrt uns und sollte uns eigentlich das Vertrauen der Kassen einbringen.
Es verwundert, dass die Krankenkassen heute einerseits sinnvolle Mittel wie rezeptfrei erhältliche Medikamente und Präventivmassnahmen mit dem Negativ-Etikett versehen, anderseits aber mit Spezialversicherungen werben, welche die Kosten völlig irrationaler Verfahren übernehmen. Ob den Kassen als Fernziel vorschwebt, Medikamente überhaupt nur noch denjenigen Versicherten zu bezahlen, die eine Zusatzversicherung abschliessen? Wie dem auch sei: das Vorgehen erweckt in mir das unangenehme Gefühl, es gehe in erster Linie um eine Machtdemonstration.
Grundsätzlich sollten nämlich Ärztinnen und Ärzte über die Wahl der geeigneten Medikamente entscheiden und nicht Kassenmanager. Ich befürworte deshalb ein ganz liberales System, da ich überzeugt bin, dass sich eine gute Behandlung nicht durch Listen vorschreiben lässt, wohl aber durch einen kritischen Sinn und stetige Fortbildung. An diesen beiden Ingredienzien fehlt es meines Erachtens in der Schweiz durchaus nicht.
Was lässt sich aber tun, um -- ohne Negativlisten -- eine weitere Zunahme der Kosten zu verhindern? Ich halte es für realisierbar, die Preise mindestens für die schon länger verfügbaren (besser aber für alle) Medikamente um etwa ein Viertel zu senken. Vielleicht sollten wir für einmal doch von unseren Nachbarn lernen und das deutsche System der Festbeträge in moderater Weise übernehmen.
Gleichzeitig sollte die Kostenbeteiligung der Behandelten erhöht werden, z.B. auf 20%. Diese beiden Massnahmen hätten zusammen zur Folge, dass die Kassen tatsächlich weniger bezahlen müssten, die Versicherten jedoch nicht unsinnig belastet würden. Es ist mir bewusst, dass dabei auch die Einnahmen der Industrie sowie der Apotheker und der selbstdispensierenden Ärzte abnehmen würden. Wenn man aber bedenkt, wie sehr die Umsätze in den letzten Jahren zugenommen haben, kann dieser Verlust als tragbar bezeichnet werden. Wenn die Medikamentenkosten nicht weiter ansteigen sollen, so sind ja Verzichte wohl unvermeidlich. Im Gegensatz zum System der Negativlisten entsteht bei meinem Vorschlag eine Art Opfersymmetrie, die eigentlich allen einleuchten müsste.
Etzel Gysling
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