Randomisiert-kontrollierte Studien: Grundlagen einer optimalen Therapie

ceterum censeo

Irrationale Therapien, mit Vorliebe als alternativ oder ganzheitlich bezeichnet, sind in so hohem Masse Mode geworden, dass es notwendig erscheint, wieder einmal an die einfachen Grundlagen einer guten medizinischen Behandlung zu erinnern.
Unter den verschiedenen Verfahren, die uns über den Nutzen einer Behandlung Auskunft geben können, ist die randomisiert-kontrollierte Studie die weitaus zuverlässigste. In einer randomisiert-kontrollierten Studie werden mehrere (mindestens zwei) Behandlungsverfahren geprüft, indem die zu behandelnden Personen nach dem Zufall dem einen oder anderen Verfahren zugeteilt werden. Eines der Verfahren dient als Kontrolle, an dem die anderen Verfahren gemessen werden. Diese Kontrolle ist heute in der Regel eine Behandlung, deren Wirksamkeit als nachgewiesen gilt. Bestehen Zweifel an der Wirksamkeit aller bisher bekannten Verfahren, so kann eine Placebo- Behandlung als Kontrolle dienen. Wenn die Zuteilung zu einer Behandlung nach dem Zufall geschieht, werden viele zusätzliche Einflüsse auf den Therapieerfolg «neutralisiert ». So wird es möglich, wirklich nur die geprüften Verfahren mit ihren positiven oder negativen Auswirkungen zu erfassen.
Randomisiert-kontrollierte Studien sind nicht notwendigerweise kompliziert und aufwendig. Mit solchen Studien kann zum Beispiel geprüft werden, ob eine intensivere soziale Betreuung während der Schwangerschaft in der Folge das Wohlbefinden von Mutter und Kind vorteilhaft beeinflusst. Es ist klar, dass dabei keine «Placebobehandlung » durchgeführt, sondern lediglich die «normale» mit einer intensiveren Betreuung verglichen wird. Wichtig ist aber, dass die Zuteilung zu der einen oder anderen Betreuungsvariante nach dem Zufall erfolgt und dass das Resultat in sinnvoller Weise überprüft werden kann. Zweifellos vermittelt dieses verhältnismässig einfache Prüfverfahren eine viel genauere Information über den Nutzen einer Behandlung, als wenn z.B. einfach angenommen würde, die intensivere Betreuung hätte auf alle Fälle die günstigeren Auswirkungen. Es ist übrigens ganz erstaunlich, wieviele als Standard geltende medizinische Aktivitäten (diagnostischer und therapeutischer Natur) bis anhin nie einer solchen einfachen Prüfung unterzogen worden sind.

Das bisher geschilderte Verfahren ist zwar gut, manchmal jedoch, wie wir alle wissen, nicht ganz genügend. Es lässt sich nicht vermeiden, dass Betreuerinnen und Betreuer, die ein besonderes (oder neues) Verfahren anwenden, die ihnen anvertrauten Personen in einem weiteren Sinne positiv beeinflussen und damit einen spürbaren Einfluss auf den weiteren Verlauf ausüben. Aber auch in diesen Fällen ist es möglich, zu einer unbeeinflussten Beurteilung des Resultates zu gelangen. Wenn zum Beispiel zwei verschiedene Verfahren der Psychotherapie gegeneinander abgewogen werden sollen, so kann man die Patienten nach dem Zufall zwei verschiedenen Therapeutinnen oder Therapeuten zuweisen und das Ergebnis später durch andere Fachleute beurteilen lassen, die keine Kenntnis davon haben, welches Verfahren bei den einzelnen Individuen zur Anwendung gelangte. Wichtig ist wiederum, dass die Prüfung randomisiert und kontrolliert erfolgt. (Die Psychotherapie ist ein Gebiet, das sich bisher einer derartig kritischen Beurteilung wie kaum ein anderes weitgehend entzogen hat.) Es ist zuzugeben, dass der Aufwand für eine solche Studie recht beträchtlich sein kann und Konflikte -- z.B. Uneinigkeit über die Beurteilungsskala -- nicht immer zu vermeiden sind. Man darf aber nicht übersehen, dass gerade im Bereich der Psychotherapie eine aussagekräftige Studie unter Umständen zu beträchtlichen Einsparungen führen könnte (wenn z.B. eine kürzere Therapie ein ebenso gutes Resultat erbrächte wie eine längere Behandlung).

Besonders im Bereich der Pharmakotherapie wird eine randomisiert-kontrollierte Studie oft am besten als Doppelblindstudie angelegt. Das Prinzip, den behandelnden Ärztinnen und Ärzten und auch ihren Kranken «die Augen zu verbinden», was die wahre Natur der applizierten Behandlung anbelangt, hat sich ausserordentlich bewährt. Es gibt zwar Gebiete, in denen die Erfolgsmessung weitgehend «unbestechlich» ist, zum Beispiel bei Infektionskrankheiten. In der Regel wird aber der Krankheitsverlauf von sehr vielen therapiefremden Faktoren mitbeeinflusst. So ist es leicht möglich und auch durchaus einfühlbar, dass man als Therapeut oder Therapeutin einen günstigen Verlauf fälschlicherweise den eigenen Behandlungsbemühungen zuschreibt. Wie wäre es sonst denkbar, dass z.B. einzelne Rheumatologen auch heute noch an die Wirksamkeit des Knorpel-Knochenmarkextrakts Rumalon® glauben, obwohl seine Wirksamkeit auch nach vielen Jahren der Anwendung nicht überzeugend nachgewiesen ist? Die Doppelblindstudie erscheint zwar technisch aufwendig, ist aber durchaus mit verhältnismässig bescheidenen Mitteln  realisierbar, wenn man nur will. Ein Vorteil dieses Verfahrens liegt darin, dass eine einzige Person sowohl die Behandlung als auch die Beurteilung durchführen kann, ohne dass die «Gleichberechtigung» der geprüften Verfahren gefährdet wäre.

Ist es für unsere Patientinnen und Patienten ein Nachteil, wenn wir Therapien (nicht zuletzt auch unsere eigenen) grundsätzlich kritisch ansehen? Werden unsere therapeutischen Entscheide unpersönlich, kalt und herzlos, wenn wir uns auf randomisiert-kontrollierte Studien stützen? Ich bin überzeugt, dass dies nicht der Fall ist. Wenn wir uns möglichst weitgehend auf Studien mit objektivierbaren Resultaten verlassen, wissen wir nämlich, was wir tun und auch, was wir lassen sollen. Unsere Möglichkeiten und unsere Grenzen zu sehen, hindert uns nicht daran, Affekt und Empathie für kranke Menschen zu entwickeln. «Tender Loving Care» ist durchaus kein Privileg homöopathisch tätiger Ärztinnen und Ärzte, sondern entwickelt sich auf dem Boden einer rationalen Denkweise mindestens ebenso gut.

Schön wäre es, wenn wir immer wüssten, welches der beste Weg zur Heilung oder wenigstens zur Besserung der vielen Krankheiten wäre. Leider bin ich aber sehr oft vom Ideal des «wohlinformierten» Arztes weit entfernt. Dies liegt nicht nur daran, dass gewisse Fragen bisher noch gar nicht in geeigneten Studien geprüft worden sind. Ein wichtiger Grund für meine Ignoranz beruht auf der Tatsache, dass ich als Arzt selektiv informiert werde. Alles, was für die pharmazeutische Industrie von Interesse ist, wird mir immer wieder sorgfältig unter die Nase gerieben. Wie oft habe ich doch schon vom (zugegebenermassen bemerkenswerten) Nutzen der ACE-Hemmer gehört! Über Studien, die kaum finanzielle Belohnungen versprechen -- wie z.B. zum spektakulären Nutzen der Diuretika bei alten Leuten mit systolischer Hypertonie -- hört man viel weniger. Und Studien, die nicht-medikamentöse Verfahren unter die Lupe nehmen, bleiben meistens ganz und gar im Dunkel.
Unser Wissensdefizit im Bereich randomisiert-kontrollierter Studien liesse sich beheben, wenn solche Studien systematisch gesammelt und ausgewertet würden. Genau dies hat sich die Cochrane Collaboration, eine internationale Institution mit Basis in Grossbritannien, vorgenommen. Archie Cochrane, 1988 verstorben, war ein Protagonist der randomisiert-kontrollierten Studie, der schon früh auf die Notwendigkeit einer kritischen Evaluation und Zusammenfassung dieser Studien hinwies. Ende 1992 wurde das Zentrum der Cochrane Collaboration in England eröffnet. Erklärtes Ziel seiner Aktivitäten ist es, Ärztinnen und Ärzten sowie allen anderen um Kranke bemühten Personen zu helfen, ihr Wissen über randomisiert- kontrollierte Studien à jour zu halten.

Bisher hat das Zentrum eine umfassende Übersicht, die «Cochrane Pregnancy & Childbirth Database» auf Computer- Disketten veröffentlicht. Um die Information aktuell zu halten, werden alle sechs Monate neue Disketten herausgegeben.
Ein Beispiel aus dieser Fundgrube von Daten: 1972 wurde erstmals eine Studie veröffentlicht, die zeigte, dass die Verabreichung von Kortikosteroiden kurz vor einer vorzeitigen Entbindung die Inzidenz des Atemnotsyndroms der Frühgeborenen («Respiratory Distress Syndrome») deutlich reduziert. Im Laufe der folgenden zwei Jahrzehnte wurde über weitere Studien berichtet, die die Wirkung der Steroide -- z.B. von Dexamethason (Decadron® u.a.) -- bestätigten. Da jedoch bis 1989 keine Meta-Analyse dieser Studien publiziert wurde, blieb das Wissen über diese Behandlung «versteckt». Dabei werden für ein Frühgeborenes einer mit Steroiden behandelten Frau die «Chancen » (odds), tödlichen Komplikationen des Atemnotsyndroms zu entgehen, um 30 bis 50% verbessert! Dieses Beispiel entstammt der Broschüre, welche die erwähnten Disketten begleitet und wird von folgendem Kommentar abgeschlossen: «Da den meisten Geburtshelfern bis 1989 der Nutzen dieser Behandlung nicht gegenwärtig war, sind wahrscheinlich Zehntausende von frühgeborenen Kindern unnötigerweise gestorben.»

Ich muss gestehen, dass ich von der Fülle von Information, die auf den beiden Disketten zu finden ist, sehr beeindruckt bin. Natürlich gibt es eine Reihe anderer guter Informationsquellen, wenn wir uns über gesundheitliche Probleme in Schwangerschaft und Stillzeit orientieren wollen. In keiner anderen gelangt aber das Prinzip der Meta-Analyse randomisiert-kontrollierter Studien so konsequent zur Anwendung wie in der «Cochrane Pregnancy & Childbirth Database». Ich hoffe sehr, dass es der Cochrane Collaboration gelingen wird, ihre Aktivitäten weiter international zu verstärken und auf möglichst viele Therapiebereiche zu erweitern.

Etzel Gysling

Standpunkte und Meinungen

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Randomisiert-kontrollierte Studien: Grundlagen einer optimalen Therapie (14. Juni 1994)
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pharma-kritik, 16/No. 11
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