Choleraimpfstoffe
- Reviewer: Christoph Hatz, Pierre-Alain Raeber, Robert Steffen
- pharma-kritik-Jahrgang 16
, Nummer 17, PK475
Redaktionsschluss: 14. September 1994 - PDF-Download der Printversion dieser pharma-kritik Nummer
Synopsis
Die Cholera ist eine akute dehydrierende Durchfallerkrankung, die durch ein Toxin verursacht wird, das von Bakterien der Gattung Vibrio cholerae gebildet wird. Choleravibrionen werden in mehr als 100 verschiedene Serogruppen unterteilt. Üblicherweise verursachen nur Vibrionen aus der Serogruppe O1 Cholera-Epidemien. Jetzt sind aber auf dem indischen Subkontinent Choleravibrionen vom Stamm O139 Bengal aufgetreten, die ebenfalls zu Epidemien führen. Choleravibrionen aus der Serogruppe O1 lassen sich auf Grund von Zellwandeigenschaften in die Serotypen Ogawa und Inaba und zusätzlich in einen klassischen und einen Biotyp El Tor unterscheiden.
Die siebte Pandemie, die 1991 auch Lateinamerika erreichte, ist durch den Biotyp El Tor verursacht. Weltweiterkranken jedes Jahr mehr als eine Million Menschen an einer Cholera. 100’000 bis 130’000 sterben daran. Eine Infektion mit Cholerabakterien bedeutet jedoch noch nicht Cholerakrankheit. Je nach Biotyp, geographischer Region und weiteren Umständen erkrankt eine von drei bis eine von hundert infizierten Personen an einer manifesten Cholera. Besonders El-Tor-Stämme führen zu einer grossen Zahl von asymptomatischen Infektionen.
Die Übertragung der Cholerabakterien erfolgt auf fäkooralem Weg vorwiegend über kontaminierte Nahrungsmittel und Wasser. Unter geeigneten Umgebungsbedingungen können Choleravibrionen im Wasser langfristigüberleben und ein Infektionsreservoir bilden. Das von den Cholera-Bakterien gebildete Toxin besteht aus einer A -Untereinheit(«Subunit») die von 5 B-Untereinheiten umgeben ist. Die letzteren bewirken eine feste Bindung an die Zelloberfläche im Darm. Die A-Untereinheit führt über eine irreversible Stimulation der Adenylzyklase zu einer Hypersekretion von Elektrolyten und Flüssigkeit.
Impfstoffe
Die seit mehr als 100 Jahren hergestellte, parenteral verabreichte Ganzzell-Totvakzine wurde erst in den 60er Jahrenin kontrollierten Studien untersucht.(1) Ihre Schutzwirkung beträgt höchstens 50% und erstreckt sich über einen Zeitraum von 4 bis 6 Monaten. Unerwünschte Wirkungensind häufig. Bis zu 50% der geimpften Personen klagen über Schmerzen und eine Entzündung an der Einstichstelle, 10 bis 30% erkranken an Fieber und etwa 5% müssen sogar einige Tage das Bett hüten. Diese Impfung kann heutzutage als obsolet betrachtet werden.
In Schweden ist eine orale Totimpfung erhältlich. Es handelt sich um Formaldehyd- und hitzeinaktivierte Choleravibrionen dreier verschiedener Stämme, die mit Cholera-Toxin-B-Untereinheiten kombiniert werden (WC/BS-Totvakzine). Ausgedehnte Studien vor allem in Bangladesh und Peru ergaben einen Impfschutz von 85 bis 100%, der innerhalb von 2 bis 3 Jahren auf 55 bis 60% abnimmt.(2-4)
Unter dem Namen Orochol® ist jetzt in der Schweiz ein neuer oral verabreichbarer Lebendimpfstoff erhältlich, der2×108 koloniebildende Einheiten von Choleravibrioneneines gentechnologisch veränderten Stammes mit der Bezeichnung CVD-103-HgR enthält. Für die Impfstoffherstellung wurde der Stamm Inaba 569B so verändert, dass er nur noch B-Untereinheiten, jedoch keine A-Untereinheiten des Enterotoxins produziert. Zusätzlich wurde ein Gen für die Kodierung einer Quecksilberresistenz eingeführt, damit der Impfstamm vom Wildtyp des V.cholerae-O1-Stammes unterschieden werden kann.(5,6)
Choleraimpfstoffe führen zur Bildung von vibrioziden und antitoxischen Antikörpern. Als Serokonversion wird ein mindestens vierfacher Titeranstieg der vibrioziden Antikörper definiert. Der Zusammenhang zwischen Serokon version und Schutzwirkung ist jedoch nicht eindeutig.
Klinische Studien mit dem CVD-103-HgR-Impfstoff
Serologische Studien
Nach Verabreichung des CVD-103-HgR-Impfstoffs ist bei mehreren tausend Personen der Titerverlauf der vibrioziden Antikörper untersucht worden. Über 95% der Probanden aus Ländern ohne Vorkommen von Cholera weisen einen mindestens vierfachen Anstieg der vibrioziden Antikörper auf, wenn sie mit einer Einzeldosis von 5×10(8) koloniebildenden Einheiten geimpft werden.(5-8) Mit einer Einmaldosis des Lebendimpfstoffs wurde ein etwa 3- bis 5fach höheres geometrisches Mittel der Antikörpertiter erreicht als mit der inaktivierten WC/BS-Totvakzine.
Bei Personen, die in Choleraendemiegebieten leben, erwiess ich eine Dosis von 5×10(8) koloniebildenden Einheiten als ungenügend. So konnte eine Serokonversion nur bei 16% von indonesischen Kindern und 25% von thailändischen Soldaten erzielt werden, da viele Probanden bereits vorgängig vibriozide Antikörper aufwiesen und deshalb zumindest über eine partielle Immunität verfügten.(9,10) Mit einer höheren Dosis von 5×10(9) koloniebildenden Einheiten gelang dagegen eine Serokonversion in 75 bis 85%.
Expositionsversuche
Die Wirksamkeit der CVD-103-HgR-Impfung wurde bei Freiwilligen in fünf verschiedenen Expositionsversuchen mit Cholera-Bakterien geprüft. Die Probanden erhieltenenterotoxische V.cholerae-O1-Bakterien von allen Seround Biotypen, die bei nicht-immunisierten Personen in 78 bis 100% schwere Durchfälle auslösen. Die schützende Wirkung betrug 4 Wochen nach Verabreichung des Impfstoffs-- unabhängig vom Serotyp -- gegen den klassischen Biotyp 82 bis 100% und gegen den Biotyp El Tor lediglich 62 bis 67%.5,6,11 Ein Impfschutz trat bereits nach 8 Tagen ein und dauerte mindestens 6 Monate.(11)
In erster Linie sollen mit einer Impfung schwere Cholerabedingte Durchfälle vermieden werden. Keine der 80 geimpften Personen erkrankte an einer schweren Cholera (Stuhlvolumen über 5 l/Tag), auch nicht an einer mittelschweren Form (über 3 l Stuhl pro Tag). In der Kontrollgruppe hingegen erkrankten von 80 Versuchspersonen 7 an schweren und 16 an mittelschweren Durchfällen.
Feldstudien
Nicht-experimentelle Studien zur Wirksamkeit des Impfstoffs fehlen zur Zeit noch. Wegen der geringen Inzidenz bei Reisenden kann die Wirksamkeit der Impfung in dieser Gruppe nicht geprüft werden. In Indonesien, einem klassischen Choleraendemiegebiet, wurde 1993 eine grosserandomisierte Feldstudie mit mehr als 68’000 Personen im Alter von 2 bis 42 Jahren begonnen, die nach 3 Jahrenausgewertet wird.
Indikationen
Seit 1973 wird von der WHO die Choleraimpfung nicht mehr empfohlen. Offiziell gibt es kein Land mehr, das zur Einreise eine Choleraimpfung verlangt. Die neuen oralen Impfstoffe erfordern sicher eine Neubestimmung der Rolle, die einem Impfstoff bei der Kontrolle der Cholera in endemischen Gebieten zukommen soll.
Das Risiko für Reisende, an einer Cholera zu erkranken, beträgt weniger als 1:100’000 pro Jahr mit einer Letalität von weniger als 2%.(12,13) In der Schweiz wird nicht einmal jedes Jahr ein Fall von Cholera registriert. Obwohl die neue orale Lebendimpfung viel wirksamer und verträglicher ist als der früher verwendete Totimpfstoff, gibt es kaum Gründe, Reisende routinemässig zu impfen. Eine Impfung gegen Cholera ist von einer Kosteneffizienz weit entfernt, was in geringerem Masse auch für die anderen für Kurzzeitaufenthalter empfohlenen Impfungen gilt.(14) Eine Impfung kann jedoch für Kurzaufenthalter in Hochendemiegebieten erwogen werden, wenn die Cholera-Inzidenz bei Touristen ungewöhnlich hoch ist. Auch die Immunisierung von Katastrophenhelfern, die bei Choleraepidemien eingesetzt werden, ist sowohl aus medizinischen wie auch aus psychologischen Gründen sicher gerechtfertigt.
Ein zusätzlicher Schutz vor einer durch enterotoxische E.coli bedingten Diarrhoe ist bisher nur für die in Schweden erhältliche orale WC/BS-Totvakzine, nicht jedoch für den CVD-103-HgR-Impfstoff nachgewiesen.(15,16)
Wahrscheinlich profitieren Langzeitaufenthalter in Entwicklungsländern nicht von einer Choleraimpfung. Wird 15 bis 24 Monaten nach der Erstimpfung erneut geimpft, so kann nur bei etwa 25% der geimpften Personen ein ausreichender Anstieg der Antikörper induziert werden.(17)
Eine der wichtigsten Aufgaben einer neuen Impfung wäre die Prävention endemisch auftretender Choleraerkrankungen. Der Entscheid, eine neue Impfung in Endemiegebieten einzuführen, bedarf jedoch einer breiten Abklärung der epidemiologischen und sozio-ökonomischen Situation. Für den CVD-103-HgR-Impfstoff fehlen zur Zeit solche Untersuchungen.
Unerwünschte Wirkungen
CVD-103-HgR ist sehr gut verträglich. Da der Impfstoff durch genetische Veränderung eines hochpathogenen Cholera-Stammes hergestellt wird, wurde dem Auftreten von möglichen Durchfällen besondere Aufmerksamkeit geschenkt. In mehreren randomisierten Doppelblindstudien, die in verschiedenen Ländern und in verschiedenen Altersgruppen durchgeführt wurden, traten Durchfälle in der Impf- und in der Placebogruppe in gleicher Häufigkeit von 0 bis 12% auf.(5,7-9) Auch andere unerwünschte Wirkungen wie Kopfschmerzen, Unwohlsein, Fieber, Appetitlosigkeit, Bauchkrämpfe und Erbrechen sind selten. Bedenken wurden auch über eine Ausscheidung des Impfstammes und eventueller Wiedererlangung der Virulenz geäussert.CVD-103-HgR wird jedoch nur bei 5 bis 25% der Geimpften im Stuhl ausgeschieden und die Übertragung im Rahmen von Haushaltkontakten auf ungeimpfte Personen ist äusserst selten.
Verabreichung, Vorsichtsmassnahmen, Kosten
Eine Dosis Orochol® enthält mindestens 2×10(8) Keime des attenuierten Stammes CVD-103-HgR in lyophilisierter Form. Bei Kühlschranktemperatur ist der Impfstoff während 6 Monaten haltbar. Der Impfstoff soll nicht länger als 24 Stunden der Raumtemperatur ausgesetzt sein, da sonst die Wirksamkeit beeinträchtigt sein kann. Er muss zusammen mit Natriumbicarbonat-Puffer in 1 dl lauwarmem Wasser aufgelöst und eingenommen werden, damit die lebenden Bakterien nicht durch den Magensaft zerstört werden. Eine Stunde vor- und nachher darf keine feste Nahrung eingenommen werden. Erfahrungen bei Kindern unter 2 Jahren liegen keine vor. Obwohl der Impfstoff vorwiegend eine lokale intestinale Immunantwort induziert, soll er nicht in der Schwangerschaft oder bei immunsupprimierten Patienten angewendet werden.Interaktionen mit anderen gleichzeitig verabreichten Impfstoffen sind nicht bekannt. Eine gleichzeitige Antibiotikatherapie kann die Impfung im Darm unwirksam machen; es wird deshalb ein Abstand von mindestens 7 Tagen empfohlen. Eine Dosis Orochol® kostet Fr. 29.80.
Beurteilung
Experimentelle Studien zeigen eine ausgezeichnete, mindestens 6 Monate andauernde Schutzwirkung des neuen oralen Lebendimpfstoffs gegen eine mittelschwere bis schwere Choleraerkrankung.Die Impfung vermittelt keinen Schutz gegen «gewöhnliche» Reisedurchfälle. Das Risiko einer Choleraerkrankung ist für Touristen jedoch so gering, dass dieser Impfung keine Priorität zukommt. Solange nicht klar ist, ob dievergleichsweise bescheidene Immunantwort auf die Auffrischimpfung für einen Schutz genügt, kann die Impfung auch für Langzeitaufenthalter nicht empfohlen werden. Sinnvoll ist sie nur für Personen, die einem besonders hohen Risiko ausgesetzt sind, z.B. Katastrophenhelfer. Gegen den neuen Cholera-Stamm O139 Bengal sind die neuen oralen Impfstoffe bisher unwirksam. Der Stellenwert der Impfung im Rahmen von Cholera-Kontrollprogrammen in Entwicklungsländern ist noch nicht definiert. Vorläufig besitzen hygienische Massnahmen, besonders eine gute Trinkwasserversorgung und Abwasserkontrolle, langfristig den höchsten Stellenwert, um die Cholera unter Kontrolle zu halten.
Literatur
- 1) Mosley WH et al. Bull World Health Organ 1973; 49: 381-7
- 2) Clemens J et al. Lancet 1986; 1: 124-7
- 3) Clemens J et al. Lancet 1990; 1: 270-3
- 4) Sanchez JL et al. Lancet 1994; 344: 1273-6
- 5) Levine MM, Kaper JB. Vaccine 1993; 11: 207-12
- 6) Levine MM et al. Lancet 1988; 2: 467-70
- 7) Cryz SJ et al. Vaccine 1990; 8: 577-80
- 8) Kotloff KL et al. Infect Immun 1992; 60: 4430-2
- 9) Su-Arehawaratana P et al. J Infect Dis 1992; 165: 1042-8
- 10) Suharyono C et al. Lancet 1992; 340: 689-94
- 11) Tacket CO et al. J Infect Dis 1992; 166: 837-41
- 12) Morger H et al. Br Med J 1983; 286: 184-6
- 13) Weber JT et al. Arch Intern Med 1994; 154: 551-6
- 14) Behrens RH, Roberts JA. Br Med J 1994; 309: 918-22
- 15) Clemens J et al. J Infect Dis 1988; 158: 372-7
- 16) Peltola H et al. Lancet 1991; 338: 1285-9
- 17) Cryz SJ et al. Infect Immun 1992; 60: 3916-7
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