Paroxetin
- Autor(en): Urs Dieter Kappeler
- pharma-kritik-Jahrgang 16
, Nummer 03, PK474
Redaktionsschluss: 14. Februar 1994 - PDF-Download der Printversion dieser pharma-kritik Nummer
Synopsis
Paroxetin (Deroxat®), ein selektiver Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, wird zur Behandlung von Depressionen empfohlen.
Chemie/Pharmakologie
Paroxetin ist ein Phenylpiperidin-Derivat und hemmt wie z.B. Fluoxetin (Fluctine®) die Wiederaufnahme von Serotonin in zentrale Neuronen. Durch die erhöhte Dichte des Transmitters im synaptischen Spalt entsteht eine verstärkte serotonerge Aktivität. Die langfristige Verabreichung von Paroxetin hat möglicherweise auch eine Abnahme von Zahl und Sensibilität verschiedener Serotoninrezeptoren zur Folge. Wie bei anderen Serotonin-Wiederaufnahmehemmern sind jedoch keine klaren Zusammenhänge zwischen diesen Mechanismen und der antidepressiven Wirkung bekannt.
Paroxetin beeinflusst andere Transmittersysteme (Noradrenalin, Dopamin, Histamin) kaum. Zu cholinergen Rezeptoren hat Paroxetin eher mehr Affinität als andere Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, jedoch deutlich weniger als trizyklische Verbindungen.(1,2)
Pharmakokinetik
Paroxetin wird gastrointestinal gut resorbiert, unterliegt jedoch einem teilweise sättigbaren präsystemischen Metabolismus. Die biologische Verfügbarkeit von Paroxetin soll durchschnittlich etwa 50% betragen. Es verteilt sich in praktisch alle Gewebe. Die Plasmaspiegel streuen interindividuell sehr stark; maximale Spiegel sind etwa nach 5 Stunden erreicht. Paroxetin wird in der Leber praktisch vollständig zu pharmakologisch unwirksamen Derivaten abgebaut. Die Metaboliten werden teils renal, teils biliär ausgeschieden. Die Eliminationshalbwertszeit beträgt im Mittel etwa einen Tag, variiert jedoch von einer Person zur anderen im Bereich von 4 bis 65 Stunden. Zwischen Plasmawerten und antidepressiver Wirksamkeit konnte bisher kein direkter Zusammenhang festgelegt werden.
Ältere Personen metabolisieren Paroxetin verlangsamt. Dasselbe gilt für Patienten mit Leberzirrhose und Personen mit schwerer Niereninsuffizienz. In der Muttermilch können annähernd die gleichen Paroxetinkonzentrationen wie im Plasma festgestellt werden.(1,3)
Klinische Studien
Die antidepressive Wirksamkeit von Paroxetin ist gut dokumentiert. Das Medikament wurde in kontrollierten Studien mit Placebo, trizyklischen Antidepressiva, Mianserin, aber auch mit anderen Serotonin-Wiederaufnahmehemmern verglichen.
Alle im folgenden beschriebenen Studien wurden randomisiert und doppelblind durchgeführt und dauerten 6 Wochen. Einbezogen waren Patienten mit einer schweren unipolaren Depression gemäss den Kriterien des amerikanischen «Diagnostic and Statistical Manual of MentalDisorders» (DSM-III-R). Die Gewichtung der Depression und die Beurteilung der medikamentösen Wirkung erfolgte aufgrund anerkannter psychometrischer Bewertungssysteme (z.B. «Hamilton Depression Rating Scale», «Montgomery Asberg Depression Rating Scale»). In der Regel wurde ein Behandlungserfolg als eine Abnahme der Skalenpunkte um 50% definiert.
Vergleiche mit trizyklischen Antidepressiva
In sechs placebokontrollierten Studien wurde Paroxetin bei insgesamt 645 Patienten mit Imipramin (Tofranil®) verglichen. Die zwischen 18 und 65 Jahre alten Patienten erhielten nach einer Placeboperiode Paroxetin (10 bis 50 mg/Tag), Imipramin (65 bis 275 mg/Tag) oder Placebo. In vier der sechs Studien ergab sich eine gleichwertige antidepressive Wirkung von Imipramin und Paroxetin.
In einer Studie allerdings waren zwar beide Medikamente dem Placebo überlegen, Imipramin zeigte sich aber gemäss den meisten Bewertungsskalen signifikant wirksamer als Paroxetin. Von 118 behandelten Patienten sprachen 48% aus der Paroxetingruppe auf die Therapie an, in der Imipramingruppe waren es 64% und in der Placebogruppe 33%.4 In der Gesamtbeurteilung der sechs Studien zeichnete sich Paroxetin gegenüber Imipramin durch eine tendenziell früher einsetzende Wirkung aus, insbesondere auch in der Beeinflussung von begleitenden Angstsymptomen.(5)
Amitriptylin (Saroten® u.a.) und Paroxetin wurden in verschiedenen Studien bei über 500 spitalexternen Patienten miteinander verglichen, wobei die beiden Substanzen in ihrer Wirkung als gleichwertig beurteilt wurden.(6)
Diese Ergebnisse konnten auch in einer Multizenterstudie mit hospitalisierten Patienten bestätigt werden, in der die Patienten nach einer Placeboperiode Amitriptylin (150 mg/Tag) oder Paroxetin (30 mg/Tag) erhielten. Von den mit Paroxetin behandelten Personen sprachen 74% auf die Therapie an, in der Vergleichsgruppe mit Amitriptylin waren es 87%.(7)
In einem Vergleich mit Clomipramin (Anafranil®) erhielten nach einer kurzen Placeboperiode 120 hospitalisierte Patienten fixe Dosen Paroxetin (30 mg pro Tag) oder Clomipramin (150 mg pro Tag). Schon nach zwei Wochen aktiver Behandlung war Clomipramin dem neuen Medikament in seiner antidepressiven Wirksamkeit signifikant überlegen. Dieser Unterschied blieb während des weiteren Studienverlaufs bestehen. Nach vier Wochen wurde die Paroxetin-Behandlung bei 45% dieser Gruppe wegen ungenügender Wirkung abgebrochen; die Clomipramin-Behandlung war dagegen nur bei 13% erfolglos. Gesamthaft ergab sich ein hochsignifikanter Unterschied im Sinne einer höheren antidepressiven Wirksamkeit von Clomipramin.(8)
Ein anderer Vergleich mit Clomipramin, bei Patienten im Alter von über 60 Jahren, zeigte dagegen gleichwertige Resultate mit den beiden Antidepressiva.(9)
Vergleiche mit Fluoxetin
Interessant sind Vergleiche mit Fluoxetin: In einer multizentrischen Studie erhielten zum Beispiel 178 hospitalisierte Patienten 20 mg Paroxetin oder 20 mg Fluoxetin täglich. Beide Serotonin-Wiederaufnahmehemmer erbrachten eine ähnliche antidepressive Wirkung.(10)
In anderen Vergleichen zwischen den beiden Medikamenten zeigte Paroxetin eine rascher einsetzende, schliesslich aber gleichwertige Wirkung wie Fluoxetin.
Studien bei älteren Leuten
Mehrere Studien waren speziell der Anwendung bei älteren Personen (über 60 Jahre) gewidmet, wobei allerdings Patienten mit anderen Erkrankungen in der Regel ausgeschlossen wurden. Dabei zeigte sich Paroxetin im Vergleich mit Amitriptylin, Clomipramin, Doxepin (Sinquan®), Fluoxetin und Mianserin (Tolvon®) ähnlich gutantidepressiv wirksam.(11)
Unerwünschte Wirkungen
Brechreiz und Erbrechen gehören mit einer Inzidenz von 23% zu den häufigsten Nebenwirkungen, gefolgt von Kopfschmerzen (18%), Müdigkeit (17%), Mundtrockenheit (17%), Schlaflosigkeit (13%), Asthenie (13%), Schwitzen und Verstopfung (je 12%) sowie Schwindel und Tremor (je 10%).(12) Auch Störungen der Sexualfunktion (verzögerte Ejakulation, verminderte Libido) wurden beobachtet.(1,6)Selten sind Hyponatriämie (bei älteren Patienten) sowie extrapyramidale Störungen (orofaziale Dystonien). In einzelnen Fällen können beim Absetzen von Paroxetin Schwitzen, Schwindel und Tremor u.a. auftreten.
Hersteller und viele Fachleute heben die (im Vergleich mit trizyklischen Antidepressiva) bessere kardiale Verträglichkeit und die geringeren anticholinergen Nebenwirkungen von Paroxetin hervor. In einzelnen Studien fand sich allerdings kein signifikanter Unterschied im Nebenwirkungsprofil von trizyklischen Verbindungen (z.B. Amitriptylin) und Paroxetin.(13) Anderseits hat sich Paroxetin in verschiedenen Langzeitstudien als vergleichsweise gut verträglich gezeigt. In einer Doppelblindstudie, die ein Jahr dauerte, musste Imipramin wegen Nebenwirkungen doppelt so häufig wie Paroxetin abgesetzt werden.(14)
Interaktionen
Serotonin-Wiederaufnahmehemmer können mit MAOHemmern zusammen zu bedrohlichen Allgemeinreaktionen führen. Zwischen der Verabreichung von Paroxetin und einer MAO-Hemmerbehandlung ist ein Intervall von zwei Wochen einzuschalten.
Enzyminduktoren (z.B. Phenytoin, Phenobarbital) und-inhibitoren (z.B. Cimetidin) können Paroxetinplasmawerte senken bzw. erhöhen. Mit oralen Antikoagulantien wurde eine erhöhte Blutungstendenz beobachtet, deren Ursache nicht geklärt ist.
Dosierung, Verabreichung, Kosten
Paroxetin (Deroxat®) ist als Tabletten zu 20 mg erhältlich und in der Schweiz kassenzulässig. Normalerweise wird jeden Morgen eine Tablette verabreicht; eine schrittweise Dosiserhöhung bis auf 40 mg/Tag ist zulässig.
Bei älteren Personen und Leber- oder Nierenkranken darf die Tagesdosis 20 mg nicht übersteigen. In der Schwangerschaft wird mangels entsprechenden Erfahrungen besser auf Paroxetin verzichtet. Da Paroxetin in die Muttermilch übergeht, sollte es auch in der Stillzeit nicht eingenommen werden.
Die Kosten einer Behandlung mit Paroxetin (20 mg/Tag) sind gleich hoch wie für Fluoxetin (Fluctine®, 20 mg/Tag), nämlich 95 Franken monatlich. Ein trizyklisches Antidepressivum wie Imipramin (Tofranil®, 50 mg/Tag) kostet dagegen nur knapp 17 Franken pro Monat.
Kommentar
Mit Paroxetin ist ein neuer Konkurrent für Fluoxetin (Fluctine®, in den USA Prozac®) erhältlich. Das neue Medikament scheint sich nicht grundsätzlich von anderen Serotonin-Wiederaufnahmehemmern zu unterscheiden. Gemäss den meisten-- jedoch nicht allen -- Studien ist Paroxetin gesamthaft besser verträglich als trizyklische Antidepressiva. Fachleute weisen besonders auf die vergleichsweise geringen kardialen und anticholinergen Effekte hin. Paroxetin verursacht dagegen häufiger Brechreiz oder Erbrechen und ist auch sonst nicht völlig problemlos. Die bei älteren Leuten gewonnenen positiven Erfahrungen müssen mit Zurückhaltung interpretiert werden, da mögliche Problempatienten meistens von den Studien ausgeschlossen waren.
Was die antidepressive Wirksamkeit von Paroxetin anbelangt, sind sich wohl alle einig, dass die Aktivität der trizyklischen Verbindungen bestenfalls knapp erreicht wird. Die bisher vorliegenden Vergleiche lassen nicht annehmen, dass wirklich relevante Wirksamkeits-Unterschiede zwischen den verschiedenen Serotonin-Wiederaufnahmehemmern existieren.
Für die Behandlung mit diesem teuren neuen Medikament kommen am ehesten Personen mit Herz- und Kreislaufleiden in Betracht, bei denen eine zusätzliche kardiale Belastung vermieden werden soll.
Literatur
- 1) Dechant KL, Clissold SP. Drugs 1991; 41: 225-53
- 2) Caley CF, Weber SS. Ann Pharmacother 1993; 27: 1212-22
- 3) Kaye CM et al. Acta Psychiatr Scand 1989; 80 (Suppl 350): 60-75
- 4) Peselow ED et al. Psychopharmacol Bull 1989; 25: 267-72
- 5) Dunbar GC et al. Br J Psychiatry 1991; 159: 394-8
- 6) Nemeroff CB. Pharmacotherapy 1994; 14: 127-38
- 7) Möller HJ et al. Pharmacopsychiatry 1993; 26: 75-8
- 8) The Danish University Antidepressant Group. J Affect Disord 1990; 18: 289-99
- 9) Pelicier Y, Schaeffer P. Encephale 1993; 19: 257-61
- 10) Tignol J. J Clin Psychopharmacol 1993; 13 (Suppl 2): 18S-22S
- 11) Holliday SM, Plosker GL. Drugs Aging 1993; 3: 278-99
- 12) Boyer WF, Blumhardt CL. J Clin Psychiatry 1992; 53 (Suppl 2): 61S-66S
- 13) Byrne MM. Acta Psychiatr Scand 1989; 80 (Suppl 350): 138-9
- 14) Claghorn JL, Feighner JP. J Clin Psychopharmacol 1993; 13 (Suppl 2): 23S-27S
Standpunkte und Meinungen
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