Das Internet als Quelle medizinischer Information
- Autor(en): Etzel Gysling
- pharma-kritik-Jahrgang 17
, Nummer 20, PK464
Redaktionsschluss: 3. Juli 1996 - PDF-Download der Printversion dieser pharma-kritik Nummer
ceterum censeo
Spätestens seit etwa einem Jahr ist das Internet zu einem der heissesten Themen aller Medien geworden. Auch Leute, die sich bisher kaum mit dem Computer beschäftigt haben, wissen, dass es um weltweite Telekommunikation «zum Lokaltarif» geht. Obwohl sich viel dazu schreiben liesse, ist hier nicht der Platz, auf Geschichte, Technologie, bewunderswerte Möglichkeiten und beunruhigende Probleme des Internets allgemein einzugehen. Dagegen möchte ich mich mit ein paar wichtigen Fragen, die wir uns im medizinischen Bereich stellen müssen, auseinandersetzen.
Bringt uns das Internet eine Bereicherung unserer beruflichen Möglichkeiten oder ist es für uns belanglos oder gar schädlich? Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir einerseits den aktuellen Zustand des Internets beurteilen, anderseits versuchen, seine mögliche Entwicklung vorauszusehen. Denn soviel ist eindeutig: das Internet ist ein ungewöhnlich dynamisches Gebilde, das seine virtuelle Gestalt ständig wandelt und weiterentwickelt.
Ein Schlüsselement für «Evidence Based Medicine»
Mit «Evidence Based Medicine» wird heute eine Medizin bezeichnet, die versucht, diagnostische und therapeutische Entscheide auf eine zuverlässige, wissenschaftlich nachweisbare Basis zu stellen. Dass dabei randomisierte klinische Studien eine dominierende Rolle spielen, habe ich in einem früheren Editorial ausführlicher beschrieben. Ärztinnen und Ärzte, die dem aufklärerischen Gedanken der «Evidence Based Medicine» folgen, müssen bereit sein, Resultate randomisierter Studien über ihre persönliche Erfahrung zu stellen. Ihre Frage lautet immer wieder: Sind meine Verfahren wirklich optimal? Oder weiss man neues, besseres?
In diesem Zusammenhang ist es aber von grösster Bedeutung, sich im Bedarfsfall an der Quelle orientieren zu können. Die Quellen, eben die randomisierten Studien, sind in der Regel in Kurzform in Datenbanken erhältlich. Es gehört deshalb zu den Prinzipien der «Evidence Based Medicine», Datenbanken jeder Ärztin, jedem Arzt verfügbar zu machen. Noch vor kurzem erschien es - mindestens in Mitteleuropa - weitgehend utopisch, grosse Datenbanken einfach und kostengünstig auf den Schreibtisch der Praktikerinnen und Praktiker zu bringen. Zwar sind schon seit mehreren Jahren CD-ROMs mit den grossen Datenbanken (Medline, Embase) erhältlich. Solche CDs sind jedoch fast ausnahmslos so teuer, dass sie sich kaum für die Anwendung in der Durchschnitts-Praxis eignen. Selbst für Spitäler stellen Medline-CDs einen Kostenfaktor dar, der nicht vernachlässigt werden kann und oft umstritten ist.
Mit dem Internet hat sich dies nun radikal geändert. Wer einen Internet-Anschluss hat, kann die grossen Datenbanken bequem und mit geringen Kosten, teilweise gar gratis konsultieren. Ich glaube zwar kaum daran, dass in der Zukunft immer wieder neue Anbieter monatelang die ganze Medline-Datenbank kostenlos zur Verfügung stellen werden. Dagegen erscheint es durchaus plausibel, dass Anbieter mit moderaten Preisen überleben werden, so dass wir für etwa 15 bis 25 Franken pro Monat unbeschränkten Zugang zu Medline haben werden. Für Kolleginnen und Kollegen, die wirklich nur ganz selten von Datenbanken Gebrauch machen wollen, besteht schon heute die Möglichkeit, diese ohne Abonnements-Gebühr, sondern nur von der «Online»-Zeit oder vom «Download» abhängig zu verwenden.
Eine grosse Verbesserung hat auch die im Internet verwendete Software gebracht. Frühere Systeme waren meistens für «Experten» gedacht - heute sind die Such-Oberflächen so anwenderfreundlich, dass niemand mehr abgeschreckt oder enttäuscht wird. Eine Hürde bleibt allerdings bestehen, nämlich die sprachliche. Alle grossen Datenbanken sind in englischer Sprache abgefasst und stellen deshalb für Leute, die wenig oder kein Englisch verstehen, einen digitalen Turm von Babel dar. Abhilfe steht nicht in Aussicht, da der Übersetzungsaufwand viel zu gross wäre. Anderseits ist der medizinische Wortschatz doch nicht so komplex, dass man ihn sich nicht verhältnismässig rasch aneignen könnte.
Weitere Vorteile
Das Internet eignet sich nicht nur für die Konsultation von Datenbanken, sondern bietet ärztlichen Anwendern noch eine ganze Reihe weiterer Vorteile. Die elektronische Post (e-mail) ist zwar nicht auf das Internet beschränkt, hat aber erst durch dieses grössere Bedeutung erlangt. Mit minimalen Kosten und geringem Aufwand (und ohne Papier!) ist es möglich, Briefe, Dokumente, Texte aller Art in Windeseile zu übermitteln und dabei erst noch mit einem zuverlässigen «Postgeheimnis» rechnen zu können. So liessen sich z.B. auch im Verkehr zwischen Spitälern und medizinischen Praxen Dokumente in wesentlich vertraulicherer Art übermitteln, als dies heute via Telefax geschieht.
Die zahlreichen Informationsquellen, die das World Wide Web medizinischen Anwenderinnen und Anwendern erschliesst, lassen sich hier gar nicht alle aufzählen. Aktuelle Ausgaben medizinischer Zeitschriften (natürlich auch pharma-kritik) sind oft in Abstract-Form erhältlich und viele «Newsgroups» befassen sich mit medizinischen Themen. Die Fülle von Information überrascht immer wieder; selbst eine Suche in Suchprogrammen, die keineswegs für Fachleute bestimmt sind, liefert fast zu jedem medizinischen Stichwort zahlreiche Referenzen. Die Informationsqualität ist allerdings ausserordentlich variabel. Es existieren aber mehrere Listen von ausgewählten medizinischen Internet-Adressen, die helfen, die Spreu vom Weizen zu trennen. Auch wir offerieren eine solche «Hotlist» - Sie finden unsere Homepage an folgender Adresse:
http://www.infomed.org
Schon heute lässt sich voraussehen, dass die via Telekommunikation übermittelten Texte in Zukunft neben der von anderen Medien (Zeitschriften, Bücher, CD-ROMs) offerierten Information auch in der Medizin eine wichtige Rolle spielen werden. Noch ist es zu früh, den relativen Stellenwert der einzelnen Medien einzuschätzen; die Möglichkeit einer interaktiven Kommunikation, wie sie das Internet bietet, ist aber sicher ein bedeutsamer Pluspunkt.
Trau schau wem
Ebenfalls schon heute lässt sich eine gewisse Gefahr erkennen, dass sich das Internet zu einem vorwiegend kommerziell orientierten Ungetüm entwickeln könnte. Es gibt auch im medizinischen Berich bereits eine Reihe von Adressen, hinter denen fast ausschliesslich finanzielle Interessen stehen. Dies ist nicht immer auf den ersten Blick zu erkennen; eine Beteiligung von wirtschaftlich orientierten Interessengruppen muss gerade bei «Arzneimittel-Adressen» vermutet werden. Ein Blick auf die Agenda der für «Senior Executives» der Pharmaindustrie organisierten Treffen (z.B. «Profiting from the Internet in the pharmaceutical industry») lässt erahnen, wieviel «beeinflusste» Internet-Information in Zukunft zu erwarten ist.
Dies ist auch ein wesentlicher Grund, weshalb wir uns als unabhängiges Sprachrohr im Medikamentenbereich im Internet engagieren. Ich bin persönlich ganz fest davon überzeugt, dass es notwendig ist, auch in diesem Medium eine deutliche Sprache zu sprechen, die von Industrie-, aber auch von Standes- und Staatsinteressen unabhängig ist. Unsere bis auf weiteres kostenlos verfügbaren Internet-Aktivitäten sind ein Geschenk an die medizinische Öffentlichkeit, deren deutschsprachiger Teil bisher nicht gar viel in der eigenen Sprache im Internet lesen konnte. Wir werden uns auch in Zukunft dafür einsetzen, unabhängige und nach wissenschaftlich einwandfreien Prinzipien redigierte Publikationen ins Internet zu bringen.
Drei Regeln für den Start
Wer sich ernsthaft mit den Internet-Möglichkeiten beschäftigen möchte, braucht einen «eigenen» Internet-Anschluss. Neben einem möglichst leistungsfähigen Computer wird ein Modem und eventuell ein zusätzlicher Telecom-Anschluss benötigt sowie eine Einwahlmöglichkeit, die von einem sogenannten Provider vermittelt wird. Der Provider liefert in der Regel auch die notwendige Software, damit das Internet genutzt werden kann. Je nach Provider und seinen Bedingungen verursacht die Internet-Nutzung sehr unterschiedliche Kosten. Es ist deshalb unerlässlich, die folgenden drei Regeln zu beachten:
- In den allermeisten Fällen stellen die Telecom-Kosten (d.h. der Betrag, welcher der Telecomdirektion bezahlt werden muss) den wichtigsten Kostenfaktor dar. Sobald man sich nicht lokal einwählen kann, steigen die Kosten massiv (dies gilt auch für die sogenannten 0848-Nummern). Benützt man z.B. das Internet nur fünf Stunden pro Monat zum Normaltarif, so ergeben sich in der 10-100-km-Tarifzone Telecom-Jahreskosten von etwa 950 Franken! Es ist deshalb unbedingt darauf zu achten, einen Provider zu finden, der eine lokale Einwahlmöglichkeit bietet.
- Ist die erste Bedingung erfüllt und mehrere «lokale» Provider vorhanden, so müssen diese näher geprüft werden. Nicht selten nutzt man das Internet schliesslich doch häufiger, als initial vermutet. Provider, die ein von der Benützungsdauer unabhängiges Abonnement anbieten, sollten deshalb grundsätzlich bevorzugt werden. Dabei ist allerdings auch die Leistungsfähigkeit des Providers zu berücksichtigen: Nicht alle benützen eine gleich «breite» Datenbahn, weshalb man unter Umständen sehr unterschiedlich lange vor dem Bildschirm sitzt, bis das Gewünschte erscheint. Es lohnt sich also, sich vor dem Anschluss bei Leuten zu erkundigen, die das Netz schon verwenden.
- Bevor man sich entschliesst, kostenpflichtige Zusatzdienste (z.B. Datenbanken) zu abonnieren, verwendet man mit Vorteil eines der «Probeangebote»: Mitte 1996 sind auf dem Internet mehrere kostenlose Medline-Angebote vorhanden.
Korrigendum
Markenname von Paroxetin
pharma-kritik 1995; 17 (Nummer 18): 69
Der Markenname von Paroxetin lautet richtig Deroxat®.
Zoloft® ist (wie Gladem®) der Markenname für Sertralin, ein anderer Serotonin-Wiederaufnahmehemmer.
Wir bitten Sie höflich, die irrtümliche Angabe zu korrigieren.
Gegendarstellung
Unter dem Stichwort der «an die Industrie weitergegebenen Verschreibungsdaten» wurden in der Ausgabe 16 des Jahrgangs 17, Seite 64, der pharma-kritik Datenerhebungen von IMS in der Schweiz erwähnt.
IMS erhebt in der Schweiz keine Verschreibungsdaten bei Apotheken, sondern ausschliesslich direkt beim Arzt. Sowohl die bei Ärzten wie auch bei Apotheken erhobenen Daten werden von IMS so verarbeitet, dass kein Risiko der Identifikation einer Apotheke oder eines Arztes besteht und IMS hat auch in keinem Fall in der Schweiz erhobene Daten in einer Form weitergeleitet, die eine Identifikation der Datenquelle ermöglicht hätte. Die entsprechenden Schutzmassnahmen von IMS wurden auch von den schweizerischen Datenschutzbeghörden überprüft und nicht beanstandet.
IMS Switzerland, Cham
Nachwort
Wir veröffentlichen diese Gegendarstellung auf Wunsch der IMS Switzerland, weisen aber darauf hin, dass im darin erwähnten pharma-kritik-Editorial durchaus nicht behauptet wurde, die IMS würde in der Schweiz die gleichen Praktiken wie in Kanada anwenden.
E.G.
Standpunkte und Meinungen
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