Desogestrel und Gestoden erhöhen Thrombosegefahr

Aktuell

Seit Jahren wird in Deutschland über ein erhöhtes Thromboserisiko von Kontrazeptiva, die Gestoden enthalten, diskutiert. Überzeugende Daten, dass Gestoden tatsächlich ein erhöhtes Risiko auslöse, waren bisher nicht vorhanden. Nun hat das britische «Committee on Safety of Medicines» (CSM) am 18. Oktober 1995 ein überraschtes Publikum nicht nur vor Gestoden, sondern auch vor Desogestrel gewarnt. Die Behörde hat damit eine Kontroverse ausgelöst, deren Ende noch nicht abzusehen ist.

Was steht hinter dem Rat, Kontrazeptiva mit Desogestrel oder Gestoden zu vermeiden?

Das CSM beruft sich auf die Resultate von drei Studien die allerdings alle noch nicht veröffentlicht sind. Es handelt sich um eine von der Firma Schering finanzierte europäische («transnationale») Studie, eine internationale Studie der WHO und um die Analyse von britischen Allgemeinpraxis-Forschungsdaten. Alle diese drei Studien lassen annehmen, dass Desogestrel- und Gestoden-haltige Kontrazeptiva im Vergleich mit anderen modernen Kontrazeptiva etwa das doppelte Thromboserisiko aufweisen.

Gemäss den Angaben des CSM haben Frauen, die keine oralen Kontrazeptiva einnehmen, ein Thromboserisiko von 5 auf 100'000 Frauen pro Jahr. Die Einnahme von Ovulationshemmern mit niedrigem Östrogengehalt und anderen Gestagenen (z.B. Levonorgestrel) erhöht das Thromboserisiko auf 15 von 100'000 Anwenderinnen pro Jahr; enthält die Pille Desogestrel oder Gestoden, so steigt das Risiko auf etwa 30 von 100'000 Anwenderinnen pro Jahr. (Schwangere Frauen haben ein Thromboserisiko von etwa 60 von 100'000 Frauen pro Jahr.)(1) Da keine der erwähnten Studien prospektiver Natur war, sind die Resultate im einzelnen nicht über jeden Zweifel erhaben. Es ist aber bemerkenswert, dass drei voneinander unabhängige Untersuchungen zu einem übereinstimmenden Ergebnis kommen. Dies war offenbar auch der Grund, weshalb sich das CSM rasch zu einer energischen Warnung entschloss. Der Entscheid wurde in der Folge von der europäischen Arzneimittel-Kommission (CPMP) allerdings nicht sanktioniert. Dagegen haben sich die deutschen Arzneimittelbehörden für vorläufig bis Ende Juni 1996 gültige Einschränkungen entschieden.(2)

Störend an der aktuellen Sachlage ist insbesondere, dass wir alle als Nicht-Eingeweihte bis auf weiteres einigermassen «blind» bleiben, da bis zur Publikation der entsprechenden Daten wohl noch einige Zeit verstreicht. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass sich nicht nur die betroffenen Herstellerfirmen, sondern auch viele Fachleute vehement gegen die Empfehlungen der CSM wenden. Ein wichtiger Kritikpunkt betrifft das kardiovaskuläre Gesamtrisiko von Desogestrel und Gestoden: Diese Gestagene der «dritten Generation» wurden ja in erster Linie mit dem Versprechen einer besseren kardiovaskulären Verträglichkeit eingeführt. Da die neuen Gestagene die Blutlipide weniger beeinflussen als z.B. Norgestrel, konnte vermutet werden, sie hätten ein geringeres koronares Risiko. Wenn es sich nachweisen liesse, dass unter Desogestrel- oder Gestoden-haltigen Pillen weniger Herzinfarkte auftreten, so käme diesem günstigen Effekt wahrscheinlich grössere Bedeutung zu als der ungünstigen Beeinflussung der Thromboseinzidenz.(3) Es scheint allerdings, dass das CSM diese Möglichkeit sehr sorgfältig geprüft hat: Hinweise auf eine signifikante Auswirkung auf die Infarktinzidenz fanden sich offenbar in keiner der drei vorliegenden Studien.(4)

Auch in der Schweiz nehmen viele Frauen Kontrazeptiva, die Desogestrel oder Gestoden enthalten (Markennamen siehe Tabelle 1). Wie können wir im besten Interesse der Anwenderinnen raten? Es scheint mir, vernünftige Empfehlungen seien auch ohne Kenntnisse der in den drei Studien gewonnenen Einzelresultate möglich. Zwei wesentliche Überlegungen sind dabei von Bedeutung: Einerseits besteht ein begründeter Verdacht, dass unter Desogestrel- und Gestoden-haltigen Kontrazeptiva mehr Thrombosen auftreten als unter anderen modernen Kontrazeptiva. Es handelt sich offensichtlich nicht um ein enormes Risiko; auch Pillen mit Desogestrel oder Gestoden sind «remarkably safe». Dass die beiden inkriminierten Gestagene das Thromboserisiko aber erhöhen, haben bisher weder die Herstellerfirmen noch die an den Studien beteiligten Fachleute bestritten. Anderseits fehlt der Nachweis einer vorteilhaften Beeinflussung des koronaren Risikos oder einer anderen relevanten Morbidität auch heute noch, mehr als zehn Jahre nach Einführung der Desogestrel- und Gestoden- haltigen Kontrazeptiva. Solange keine entsprechenden klinischen Daten vorhanden sind, ist es spekulativ, von der Wirkung auf die Blutlipide auf ein bestimmtes koronares Risiko zu schliessen. Zudem scheint zwischen den Desogestrel- und Gestoden-haltigen Pillen und anderen modernen Kontrazeptiva kein Unterschied in bezug auf die Inzidenz von zerebrovaskulären Insulten zu bestehen.

Die Empfehlungen des Committee on Safety of Medicines sind auch für die Schweiz sinnvoll. Diese Empfehlungen sollten sicher nicht stur angewendet werden. Es gibt zweifellos Einzelfälle, in denen sich ein Desogestrel- oder Gestoden-haltiges Präparat als deutlich besser verträglich als andere Kontrazeptiva erwiesen hat. In diesen Fällen ist es denkbar, dass eine Frau im Interesse der besseren Verträglichkeit ein höheres Thromboserisiko in Kauf nehmen kann. Wichtig ist insbesondere, dass die Pille nicht unbedacht abgesetzt wird, da sonst natürlich mit einer Schwangerschaft und den damit verbundenen Risiken gerechnet werden muss! Leider erlauben die vorliegenden Informationen keinerlei Aussage zu Kontrazeptiva, die Norgestimat enthalten (in der Schweiz: Cilest®).

Literatur

  1. 1) Guillebaud J. Br Med J 1995; 311: 1111-2
  2. 2) Anon. Scrip 1995; No 2076: 25
  3. 3) Spitzer WO. Br Med J 1995; 311: 1162
  4. 4) Rawlins M. Br Med J 1995; 311: 1232
  5. 5) Anon. Reactions 1995; No 575: 3

Standpunkte und Meinungen

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Desogestrel und Gestoden erhöhen Thrombosegefahr (21. November 1995)
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pharma-kritik, 17/No. 08
PK430
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