Lieschgras-Allergene
- Autor(en): Peter Ritzmann
- pharma-kritik-Jahrgang 30
, Nummer 1, PK223
Redaktionsschluss: 28. Juni 2008
DOI: https://doi.org/10.37667/pk.2008.223 - PDF-Download der Printversion dieser pharma-kritik Nummer
Synopsis
Ein Extrakt aus Wiesenlieschgras-Pollen (Phleum pratense) wird unter dem Markennamen Grazax® zur sublingualen Immuntherapie bei Gräserpollenallergie mit Rhinitis oder Konjunktivitis empfohlen.
Chemie/Pharmakologie
Das Präparat enthält ein Extrakt aus Wiesenlieschgras-Pollen, das hinsichtlich seines Gehalts an einem der wichtigen Lieschgras-Allergene (Phleum-pratense-Allergen 5) standardisiert ist. Für verschiedene Allergene konnte gezeigt werden, dass sie bei allergischen Personen nach wiederholter sublingualer Anwendung («sublinguale Immuntherapie», SLIT) ähnliche immunologische Veränderungen bewirken können wie eine subkutane Hyposensibilisierung («spezifische Immuntherapie», SIT). So werden z.B. eine Zunahme von Interleukin-10-produzierenden T-Lymphozyten und ein Anstieg von spezifischen IgG- und IgA-Antikörpern beobachtet. Welche immunologischen Prozesse für die klinische Wirkung einer Immuntherapie verantwortlich sind, ist im Detail nicht bekannt. Ebenso unbekannt ist, ob beobachtete Unterschiede zwischen subkutaner und sublingualer Verabreichung hinsichtlich immunologischer Veränderungen von klinischer Bedeutung sind.(1,2)
Pharmakokinetik
Das Wiesenlieschgras-Pollenextrakt ist in lyophilisierter Form in der schnelllöslichen Grazax®-Tablette enthalten. Bei den Allergenen handelt es sich zur Hauptsache um Polypeptide oder Proteine, die im Gastro-Intestinaltrakt und in den Geweben rasch abgebaut werden. Es wird angenommen, dass die Allergene nicht systemisch verfügbar werden. Eine Studie mit einem anderen, radioaktiv markierten Allergen deutet darauf hin, dass Allergene, die einige Zeit im Mund behalten werden, teilweise in die Mundschleimhaut aufgenommen werden und in die regionalen Lymphknoten gelangen.(2)
Klinische Studien
Bisher wurden drei placebokontrollierte Studien mit der Lieschgras-Allergentablette veröffentlicht. In diesen Studien wurden jeweils Erwachsene mit Heuschnupfen (Rhinokonjunktivitis während der Graspollensaison) untersucht, bei denen eine Sensibilisierung auf Lieschgras-Pollen mittels positivem Prick-Test und erhöhten spezifischen IgE-Antikörpern auf Phleum pratense nachgewiesen war. Personen mit relevanten Allergien ausserhalb der Pollensaison wurden ausgeschlossen.
In einer Dosisfindungsstudie wurden insgesamt 855 Personen untersucht. Verglichen wurden Placebo und Lieschgras-Allergentabletten mit 2'500, 25'000 und 75'000 Einheiten Lieschgras-Allergen (ausgedrückt in den Einheiten SQ-T = «standardized quality tablet»). Die Behandlung wurde etwa 8 Wochen vor Beginn der Pollensaison begonnen. Die Tabletten wurden einmal täglich eingenommen. Als primäre Endpunkte wurden zwei Scores definiert, in denen die Teilnehmenden ihre Symptome und ihren Medikamentengebrauch festhielten. Bezüglich Wirksamkeit wurden nur die beiden Gruppen verglichen, die Placebo bzw. Tabletten mit 75'000 SQ-T eingenommen hatten. Bei der kompliziert geplanten und schlecht nachvollziehbaren Auswertung ergab sich schliesslich eine knapp signifikante Reduktion des Medikamentengebrauchs während der gesamten Pollensaison. Eine statistisch signifikante Reduktion des Symptomscores (3,4 gegenüber 4,2) fand sich nur, wenn die Analyse auf die 15 Tage mit der höchsten Pollenbelastung beschränkt wurde.(3)
In eine zweite Studie wurden 634 Personen aufgenommen. Die Behandlung mit der Allergentablette (75'000 SQ-T einmal täglich) oder Placebo wurde mindestens 16 Wochen vor der Pollensaison begonnen und während dieser weitergeführt. Als primärer Endpunkt diente ein Rhinokonjunktivitis-Symptomscore (0 bis 18 Punkte). Über die gesamte Pollensaison fand sich ein signifikanter Unterschied bezüglich dieses Scores zugunsten der Allergentablette (durchschnittlich 2,4 gegenüber 3,4 Punkten). Auch mussten weniger Personen Medikamente einnehmen (68% gegenüber 80% in der Placebogruppe). «Gute Tage» während der Pollensaison (Symptomscore höchstens 2, kein Medikamentenbedarf) hatten die Behandelten ebenfalls etwas mehr (53% gegenüber 44%).(4)
Bei einem Teil der Untersuchten dieser Studie wurde die Behandlung mit der Allergentablette oder mit Placebo nach der ersten Pollensaison weitergeführt. Publiziert wurde bisher eine Auswertung der Daten von 351 Personen, die für mindestens ein weiteres Jahr in der Studie verblieben waren. Auch in der zweiten Pollensaison gaben die Behandelten in der Allergentabletten-Gruppe signifikant weniger Symptome an als in der Placebogruppe (korrigierter durchschnittlicher Symptomscore 2,4 gegenüber 3,8) und benötigten weniger Medikamente. Der Unterschied gegenüber der ersten Saison war aber nicht signifikant.(5)
In einer kleineren Studie wurden 114 Personen mit Heuschnupfen und saisonalem Asthma (ohne Asthma ausserhalb der Saison) untersucht. Die Behandlung mit Placebo oder Allergentablette (75'000 SQ-T) wurde 10 bis 14 Wochen vor Beginn der Pollensaison begonnen. Primärer Endpunkt dieser Studie war die Verträglichkeit. Durchgeführt wurden aber auch Analysen bezüglich Wirksamkeit. Dabei wurden nur diejenigen Teilnehmenden berücksichtigt, die die Medikamente auch wirklich eingenommen hatten («per-protocol»-Analyse). In der Allergengruppe waren die Rhinokonjunktivitis-Symptome etwas geringer (durchschnittlicher Score 2,1 gegenüber 3,3) und es wurden weniger Medikamente gegen solche Symptome eingenommen (Unterschiede statistisch signifikant). In Bezug auf die Asthma-Symptome und -medikamente fand sich weder vor noch während der Pollensaison ein Vor- oder Nachteil in der Allergengruppe.(6)Unerwünschte Wirkungen
Spezifische Immuntherapien setzen die Behandelten einem Risiko für allergische Reaktionen aus. Diese können im Extremfall in Form einer anaphylaktischen Reaktion mit Atemwegsobstruktion und Schock zum Tod führen. Einzelfälle von anaphylaktischen Reaktionen wurden auch bei sublingualen Immuntherapien beschrieben. Fachleute schätzen das Risiko für systemische allergische Reaktionen bei sublingualer Verabreichung aber als geringer ein als bei subkutaner Injektion.(2)
In den kontrollierten Studien waren lokale Reaktionen nach Einnahme der Allergentabletten sehr häufig. Juckreiz im Mund wurde unter üblichen Dosierungen von etwa der Hälfte der Behandelten angegeben. Häufig waren auch Reizungen im Nasen- und Rachenraum (bis zu 30%) sowie Juckreiz in Ohren und Augen. Bei der Mehrheit verschwanden die Beschwerden unter Behandlung innerhalb von 14 Tagen. Stärkere lokale Reaktionen wie Schwellungen in Mund und Hals bzw. Angioödeme führten in Einzelfällen zum Abbruch der Behandlung.3,4 In einer Studie, die zwei Jahre dauerte, waren lokale Reaktionen im zweiten Jahr seltener als im ersten.5 In einer kleineren Studie bei Asthmakranken, in der die Untersuchten bis zu siebenmal höhere Dosen als üblich einnahmen, waren lokale Reaktionen hingegen häufiger (Juckreiz im Mund bei 88% der Behandelten) und dauerten unter den höheren Dosen länger an als unter den üblichen. Mögliche Symptome einer Asthmaexazerbation berichteten 19% (Unterschied gegenüber Placebo nicht signifikant).(7)
Die Anwendung der Lieschgras-Allergentablette bei Schwangeren oder stillenden Müttern ist nicht untersucht.
Interaktionen
Theoretisch sind Interaktionen mit gleichzeitig durchgeführten Hyposensibilisierungen mit anderen Allergen möglich, entsprechende Untersuchungen fehlen aber. Ebensowenig ist bekannt, ob die Anwendung von Mundspülungen oder Zahnpasten vor der Einnahme die Wirksamkeit oder die Verträglichkeit von Allergentabletten beeinflusst. Pharmakokinetische Interaktionen mit systemisch wirkenden Medikamenten sind nicht zu erwarten.Dosierung, Verabreichung, Kosten
Das Präparat (Grazax®) ist als lyophilisierte, schnelllösliche Tabletten mit 75'000 SQ-T-Einheiten erhältlich. Die Dosis einer Tablette entspricht einem Gehalt von 15 µg des Phleum-pratense-Allergens 5, dies wiederum entspricht drei Viertel einer einzelnen subkutanen Immuntherapie-Erhaltungsdosis (Alutard® 100'000 SQ-U). Das Medikament ist bei nachgewiesener Sensibilisierung auf Phleum pratense kassenzulässig.
Es wird empfohlen, mit einer Behandlung mindestens 8 Wochen vor Beginn der Pollensaison zu starten und bis zum Ende der Pollensaison täglich eine Tablette einzunehmen. Die erste Einnahme soll unter ärztlicher Aufsicht erfolgen (Überwachung während 20 bis 30 Minuten). Die Tabletten sollen nach der Entnahme aus der Blisterpackung sofort unter die Zunge gelegt werden, wo sie sich auflösen. Das Schlucken soll für etwa eine Minute, Essen und Trinken für mindestens fünf Minuten unterlassen werden.
Eine Packung mit 100 Tabletten kostet CHF 581.50, was in der Regel nicht für eine Pollensaison reichen dürfte. So entstehen pro Pollensaison Medikamentenkosten von bis zu CHF 1'163.- (2 Packungen). Im Vergleich dazu kosten die Präparate für eine vorsaisonale subkutane Kurz-Hyposensibilisierung zwischen 276 und 379 Franken. Die Gesamtkosten inklusive sechs zusätzlichen Konsultationen mit Überwachung belaufen sich auf etwa 520 bis 620 Franken pro Saison. Viel günstiger sind symptomatische Behandlungen: Cetirizin (Original = Zyrtec®) und Loratadin (Original = Claritine®) sind als Generika erhältlich; eine Tablette eines solchen Generikums ist für 60 bis 70 Rappen erhältlich, was für eine Saison weniger als 100 Franken ausmacht. Günstige Versionen nasaler Kortikosteroide kosten pro Packung etwa 40 Franken und reichen für 8 bis 12 Wochen.
Kommentar
Eine Hyposensibilisierung kann im Idealfall den Verlauf einer allergischen Erkrankung günstig beeinflussen. Diese Behandlung ist aber aufwendig, teuer und birgt das Risiko von anaphylaktischen Zwischenfällen, weshalb beim Heuschnupfen in der Regel eine symptomatische Behandlung vorzuziehen ist. Gegenüber einer subkutanen Injektionstherapie hat die sublinguale Immuntherapie den Vorteil, dass das Allergen nicht injiziert werden muss, womit die Gefahr anaphylaktischer Reaktionen geringer sein dürfte. Da die jetzt erhältliche Lieschgras-Allergentablette bisher nicht mit symptomatischen Behandlungen oder einer subkutanen Hyposensibilisierung verglichen wurde, ist ihr Stellenwert noch nicht klar. Unklar ist auch, ob die Behandlung 8, 12 oder 16 Wochen vor der Pollensaison begonnen werden soll und ob sie nach der Pollensaison abgesetzt oder über das ganze Jahr weitergeführt werden soll, wie die Herstellerfirma es in anderen Ländern empfiehlt. Das würde die bereits teure Behandlung nochmals erheblich verteuren. Auch ob die sublinguale Applikation – wie das subkutane Verfahren – nach ein paar Jahren bleibende Wirkung zeigt, ist unbekannt. Eine Behandlung mit der Lieschgras-Allergentablette kommt heute am ehesten in Frage für Erwachsene mit ausgeprägten Heuschnupfensymptomen und einer nachgewiesenen Sensibilisierung auf Phleum pratense, die eine subkutane Hyposensibilisierung ablehnen. Ein Nutzen bei Kindern wurde bisher nicht nachgewiesen.
Literatur
- 1) Dürr C et al. Schweiz Med Forum 2008; 8: 270-4
- 2) Frew AJ. N Engl J Med 2008; 358: 2259-64
- 3) Durham SR et al. J Allergy Clin Immunol 2006; 117: 802-9
- 4) Dahl R et al. J Allergy Clin Immunol 2006; 118: 434-40
- 5) Dahl R et al. J Allergy Clin Immunol 2008; 121: 512-8
- 6) Dahl R et al. Allergy 2006; 61: 185-90
- 7) Calderon M, Essendrop M. J Investig Allergol Clin Immunol 2006; 16: 338-44
Standpunkte und Meinungen
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