Was wissen wir über MiGe ?

ceterum censeo

In der MiGeL, der Mittel- und Gegenständeliste des schweizerischen Bundesamtes für Gesundheit, sind diejenigen «Mittel und Gegenstände» zusammengestellt, die von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung als Pflichtleistung vergütet werden müssen. Die Liste enthält eine unglaubliche Vielfalt von Hilfsmitteln und Apparaten, von der Gazebinde über die Insulinpumpe bis zum Hörgerät. Ein grosser Teil der Mittel und Gegenstände gehört zu den medizinischen Geräten, die in englischer Sprache als «medical devices» bezeichnet werden.

Zwei Erfahrungen haben mich veranlasst, mich mit «devices» zu befassen: Eine Umfrage der «International Society of Drug Bulletins» (die von unserer Zeitschrift mitgegründet wurde) hat gezeigt, dass die unabhängigen Arzneimittel-Zeitschriften fast nie Texte zu «medical devices» veröffentlichen. Zum zweiten habe ich das Buch «Hope or Hype» gelesen,(1) das eine Reihe von Beispielen zu mangelhaften oder nutzlosen medizinischen Geräten enthält. Medizinische Geräte spielen jedoch eine immer grössere Rolle in der Diagnostik und Therapie und tragen so wesentlich zur Kostensteigerung im Gesundheitswesen bei.

Man braucht sich nicht lange mit medizinischen Geräten zu befassen, um zu erkennen, dass zu diesen praktisch sehr wichtigen Hilfsmitteln nur wenig kritisch evaluierte Information vorhanden ist. In sehr vielen Fällen sind keine auch nur halbwegs brauchbare vergleichende Daten zu Nutzen, Risiko und Kosten vorhanden. Es wundert deshalb auch nicht, dass die unabhängigen Arzneimittel-Zeitschriften dem Thema «devices» möglichst aus dem Wege gehen – der Aufwand, etwas Licht in das Dunkel dieses Dickichts zu bringen, ist enorm viel grösser als im Bereich der Pharmakotherapie. Natürlich hilft uns die klinische Pharmakologie wenig oder gar nichts, wenn die Qualität eines Verweilkatheters oder einer Kniegelenkprothese beurteilt werden soll.

Eine kritische Beurteilung fällt auch deshalb so schwer, weil je nach Gerät oder Hilfsmittel wieder ganz andere Aspekte mitberücksichtigt werden müssen. Dies macht jedoch sowohl unabhängigen medizinischen Fachleuten als auch Expertinnen und Experten von Konsumentenorganisationen grosse Mühe. Infolgedessen wird das Feld weitgehend von Interessengruppen – Herstellerfirmen und Lieferanten, Ärztinnen und Ärzte der verschiedenen Spezialfächer und sogenannte Patientenorganisationen – beherrscht, die sehr oft die Regel «neuer und teurer ist besser» befolgen. Interessenkonflikte aller Art sind «vorprogrammiert » und reichen von der extensiven Anwendung eines teuren «Cell Counters» bis zu Lizenzgebühren für patentierbare «devices» oder Aktienanteilen bei Geräteherstellern. Zur Problematik der MiGe folgen hier einige wenige Beispiele.

Sprunggelenkorthesen

Bis in die 1980-er Jahre wurden Läsionen des lateralen Seitenbands am oberen Sprunggelenk fast routinemässig operiert. Nur langsam setzte sich die Erkenntnis durch, dass sich diese Verletzung auch mit einer Orthese des Sprunggelenks («ankle brace») gut behandeln lässt. Die von der amerikanischen Firma Aircast produzierten Orthesen spielten hier eine Pionierrolle. Bemerkenswert ist dabei, dass die ersten Aircast-Schienen nicht von einem Arzt, sondern von einem Patienten entwickelt wurden.(2) Anderseits ist anzumerken, dass zur Frage der besten Behandlungsmethode auch heute noch keine wirklich guten Daten vorliegen. Die Cochrane-Analyse zu diesem Thema gelangt zum Schluss, es müssten unbedingt bessere randomisierte Studien durchgeführt werden, in denen bei eindeutig definierten Läsionen chirurgische Verfahren mit der besten konservativen Behandlung verglichen würden.(3)

Was ist aber die beste konservative Behandlung? Heute gibt es Orthesen noch und noch, z.B. nach Professor XY – mit Schaumstoff, der sich durch «Memoryfunktion» auszeichnet – atmungsaktiv – mit antimykotischem Nappaleder – mit Neoprenpolstern usw. Welches nun wirklich die beste Schiene ist und ob alle verschiedenen Modelle ihren Preis wert sind, sagt uns niemand.

Hüftgelenkprothesen

Auch wenn man das Beispiel der Hüftgelenkprothesen ansieht, von denen es mehrere Dutzend gibt und deren Preis um das Fünffache variieren kann, muss man notwendigerweise zum Schluss kommen, es gebe hier dringenden Bedarf nach Evidenz- basierten Richtlinien. Obwohl jedes Jahr weltweit gegen eine Million von Hüftgelenken ersetzt werden, hat sich offensichtlich kein «Goldstandard» durchgesetzt. Charakteristischerweise gibt eine neue Übersicht zum Thema der Hüftarthroplastik nur sehr zurückhaltende Informationen zur Auswahl des Prothesenmodells und spricht zudem von «Experimentierfreudigkeit » der operativ Tätigen.(4)

Vom britischen «National Institute for Clinical Excellence » (NICE) gibt es zu diesem Thema eine Übersicht.(5) In dieser Arbeit wird darauf hingewiesen, dass es kaum verlässliche Daten gibt, die über den kurz- und langfristigen Nutzen eines bestimmten Prothesen-Modells Auskunft gäben. Problematisch sei unter anderem, dass an vielen Modellen im Laufe der Jahre kleinere oder grössere Änderungen vorgenommen werden, was es enorm erschwert, zuverlässige Aussagen z.B. zur 10-Jahres- Erfolgsrate zu machen. Grundsätzlich sei aber anzunehmen, dass mit Zement im Knochen befestigte Prothesen in der Regel zufriedenstellende Resultat ergäben. Zu anderen Modellen («Hybrid»-Prothesen und reine Metallprothesen) seien nicht genügend Langzeitdaten vorhanden. Tatsächlich ist nicht klar, ob Metallionen oder -partikel, die aus Metallprothesen freigesetzt werden, langfristig toxische Auswirkungen haben.(6) Dies ist umso mehr von Bedeutung, als nicht-zementierte Prothesen besonders jüngeren Kranken implantiert werden, da die Überlebensdauer der Implantate angeblich besser ist, wenn kein Zement verwendet wird.

In Anbetracht der grossen Bedeutung von Hüftgelenkprothesen – sowohl für die betroffenen Individuen als auch in Bezug auf die von der Allgemeinheit getragenen Kosten – ist die Situation jedenfalls höchst unbefriedigend. Wie bescheiden die Evidenzbasis und wie gross die Partikularinteressen in diesem Fall sind, wird durch die Tatsache beleuchtet, dass eine für 2005 geplante Revision der erwähnten NICE-Übersicht mit der Begründung, es gäbe keine neuen Daten, um weitere drei Jahre aufgeschoben wurde.(7)

Blutzucker-Messgeräte

In den letzten Jahren hat es sich eingebürgert, dass sehr viele Diabeteskranke ihren Blutzucker mit Teststreifen selbst messen. Die dabei verwendeten Messgeräte sind bisher kaum kritisch miteinander verglichen worden, obwohl möglicherweise bedeutsame Unterschiede in der Handhabung und Zuverlässigkeit dieser Geräte vorhanden sind.

Die Geräte selbst sind relativ billig. Wenn der Blutzucker aber täglich mehrfach bestimmt wird, verursachen die Teststreifen ganz erhebliche Kosten. In der Schweiz beträgt der Richtpreis gemäss aktueller MiGeL CHF 58.10 für 50 Teststreifen. Der Publikumspreis für eine Packung mit 50 Teststreifen liegt allerdings in der Regel über 60 Franken. In Deutschland, wo Blutzucker- Teststreifen für die Krankenversicherung eigenartigerweise als Arzneimittel gelten, ist es anderseits möglich, die gleichen 50 Streifen für umgerechnet etwa 45 Franken zu bekommen. Es handelt sich aber auch so noch um einen massiv übersetzten Preis für ein Massenprodukt; man kann sich nur fragen, warum sich die Diabetesgesellschaften nicht für einen faireren Preis einsetzen.

Fachleute verweisen darauf, dass eine regelmässige Blutzuckerkontrolle zu besseren HbA1c-Werten führt und so vermutlich auch den Verlauf der Krankheit günstig beeinflusst. Tatsächlich ist jedoch bei der Mehrzahl der Patientinnen und Patienten der Nutzen eines intensiven Monitorings der Blutzuckerwerte nach wie vor nicht zweifelsfrei erwiesen. Wirklich von Bedeutung ist die häufige Bestimmung des Blutzuckers in erster Linie bei Personen, die nach dem Basis-Bolus-Prinzip «intensiviert» mit Insulin behandelt werden, da die beste Insulin- Dosis nur anhand jeweils aktueller Glukosewerte festgelegt werden kann.(8)

Umstritten ist jedoch, ob Personen mit einem Typ-2-Diabetes, die keine intensivierte Insulinbehandlung erhalten, Vorteile von einer häufigen Blutzuckerbestimmung haben. Die Literatur enthält die unterschiedlichsten Aussagen zu dieser Frage – einigermassen klar ist lediglich, dass die bisher durchgeführten Studien entweder von geringer Qualität waren oder dann keine eindeutigen Resultate ergeben haben. Eine aktuelle CochraneÜbersicht kommt jedenfalls zum Schluss, zur Klärung wäre eine grosse, gut geplante randomisierte Studie notwendig.(9)

Noch viel weniger klar ist es, wie häufig eine Selbstkontrolle zu erfolgen hat. Einzelne Fachleute raten bei Typ-2-Diabetes dazu, zweimal wöchentlich je drei Werte (nüchtern, postprandial und vor dem Nachtessen) zu bestimmen.(10) Aber auch diese Empfehlung kann sich nur auf einen retrospektiven Vergleich zwischen häufigerer und seltenerer Blutzuckerbestimmung berufen,(11) und ist nicht durch randomisiert-kontrollierte Daten gesichert.

Es liessen sich fast beliebig viele weitere Beispiele anführen, die zeigen, wie gering die Transparenz zu medizinischen Geräten und Hilfsmitteln ist. Noch einmal möchte ich darauf hinweisen, dass es sich nicht um belanglose MiGe handelt, sondern um wichtige und insbesondere oft auch kostspielige Bestandteile unserer Diagnostik und Therapie.

Wer kümmert sich darum? Wer es tut, muss mit Widerstand seitens der Hersteller und wohl teilweise auch seitens einzelner Fachgesellschaften zu rechnen, die es eben «besser wissen». Unser eigenes kleines Team ist nicht in der Lage, den vergleichsweise grossen Aufwand zu leisten. Vielleicht gelingt es aber, mittels internationaler Zusammenarbeit (z.B. im Rahmen der bereits erwähnten International Society of Drug Bulletins) wenigstens einzelne wichtige Bereiche kritisch zu durchleuchten.

Standpunkte und Meinungen

  • Datum des Beitrags: 24. November 2011 (15:18:53)
  • Verfasst von: Zeno Davatz, Open Source Software (Zürich)
  • Was war der Markt für MiGel Produkte im Jahre 2011?
    Was war der Markt für MiGel Produkte im Jahre 2011? Im Jahre 2004 war er 260 Mio Franken.
Was wissen wir über MiGe ? (22. Februar 2006)
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