Welche Information brauchen wir?
- Autor(en): Etzel Gysling
- pharma-kritik-Jahrgang 26
, Nummer 16, PK118
Redaktionsschluss: 6. Juni 2005
DOI: https://doi.org/10.37667/pk.2004.118 - PDF-Download der Printversion dieser pharma-kritik Nummer
ceterum censeo
We are going through a historic transformation in the way we live, learn, work, communicate and do business. We must do so not passively, but as makers of our own destiny. Technology has produced the information age. Now it is up to all of us to build an Information Society. (Kofi Annan)1
Über die richtige und unseren Bedürfnissen entsprechend vollständige Information zu verfügen, ist heute mehr denn je von grösster Bedeutung. Diese allgemeine Feststellung trifft natürlich auch auf den Bereich der Pharmakotherapie zu. Ich möchte deshalb hier einige Aspekte zum Thema «Information» diskutieren, auf die unerhörten Möglichkeiten unserer Zeit, aber auch auf Fragen und Probleme hinweisen, für die wir bisher keine befriedigenden Lösungen kennen.
Frei erhältliche Information: ein Geschenk
In wenigen Jahren haben sich für mich – wie für viele andere Menschen – die Möglichkeiten der Informationsbeschaffung radikal verändert. So war ich früher bei der Vorbereitung eines pharma-kritik-Textes darauf angewiesen, entsprechende Unterlagen in Form von Originaldokumenten in Zeitschriften oder als Fotokopien konsultieren zu können. Noch zu Beginn der 1990er Jahre standen mir nur einige wenige Jahrgänge der Medline-Datenbank auf CD zur Verfügung und wenn ich wollte, dass die Datenbank aktuell blieb, so musste ich neue CDAusgaben für viel Geld abonnieren. Heute ist die Medline- Datenbank allen, die über einen Internetanschluss verfügen, in tagesaktueller Form kostenlos zugänglich. Noch besser: es ist mit minimalem Aufwand möglich, den Computer des amerikanischen «National Center for Biotechnology Information » (NCBI) so zu «programmieren», dass er meinen individuellen Bedürfnissen entspricht.2 In «My NCBI» kann ich Suchstrategien aufbewahren und später wieder abrufen oder mir auch nach bestimmten Suchbegriffen ausgewählte Abstracts regelmässig per e-mail zustellen lassen. Ferner kann ich mit Hilfe von Filtern die Darstellung der Resultate meiner Suchen für mich persönlich gestalten, so dass ich z.B. unmittelbar sehen kann, wieviele Referenzen sich auf klinische Studien oder auf Übersichtsarbeiten beziehen. Ein Beispiel: wenn ich nach «lercanidipin*» suche, sehe ich gleich, dass sich von den 99 «Hits» nur 25 auf klinische Studien beziehen.
Finde ich nun eine Arbeit, von der ich den vollständigen Text lesen möchte, so kann ich mir diesen in den allermeisten Fällen innerhalb von wenigen Minuten beschaffen. Über die Website der entsprechenden Zeitschrift kann ich den Text in elektronischer Form «online» bestellen und mit der Kreditkarte bezahlen und hoppla – schon ist er da, auf meinem Bildschirm, und wenn ich will, auch als gedrucktes Dokument. So hat sich meine Arbeit vereinfacht und beschleunigt – Vorteile, die ich besonders auch bei der Redaktion des Buches über «100 wichtige Medikamente» geschätzt habe.
Über das Internet sind viele weitere Informationsquellen offen. Mitgliedern der Schweizer Ärzteorganisation FMH stehen über das «HealthInfoNet» (HIN) die Cochrane Library mit ihren weitgehend unabhängig erarbeiteten Übersichten zur Verfügung. Bei der kritischen Beurteilung von Medikamenten helfen mir manchmal auch die Unterlagen, die von Arzneimittelbehörden publiziert werden. Besonders die verschiedenen Dokumente, die sich in den Servern der amerikanischen Behörde FDA finden, eröffnen den Zugang zu «Insider-Informationen», die sich sonst nirgends auffinden lassen.3 Bei der europäischen Arzneimittelbehörde EMEA lässt sich weniger finden, bei der Schweizer Behörde Swissmedic in der Regel gar nichts, das nicht auch sonst ausfindig gemacht werden könnte.
Die Tatsache, dass sehr viel Information allgemein kostenlos erhältlich ist, führt notwendigerweise zu einer Verflachung der Wissenshierarchie. Mit anderen Worten: Viele Daten, die früher nur wenigen «Eingeweihten» in medizinischen Zentren zur Verfügung standen, sind heute grundsätzlich jeder und jedem zugänglich. Offene Tore zu sorgfältig gesichtetem medizinischem Wissen, wie es in den grossen Datenbanken oder z.B. auch im Arzneimittel-Kompendium der Schweiz enthalten ist, entsprechen einer erfreulichen Entwicklung. Dies gilt auch für Volltexte, die unentgeltlich dem Internet entnommen werden können, unter der Voraussetzung, dass es sich um Veröffentlichungen aus «guten Häusern» handelt (anerkannte Fachzeitschriften, Publikationen von BioMed Central u.ä.).
Ein Danaergeschenk?
Nun sind über das Internet aber bekanntlich noch weit grössere Informationsmengen abrufbar. Mit Suchmaschinen wie Google findet man Zugang zu unglaublich vielen Quellen. Sucht man beispielsweise wieder mit dem Suchbegriff «lercanidipin*», so findet man «ungefähr» 12'800 Treffer. Natürlich hat es unter diesen vielen Fundstellen auch eine Anzahl nützlicher Adressen – die Mehrzahl ist aber unbrauchbar oder gar irreführend. Auch wenn man die Suche einschränkt, indem man beispielsweise mit «lercanidipine edema» sucht, findet Google noch über 230 Adressen. Darunter hat es leider immer noch eine Menge von Informationsquellen fragwürdiger Qualität, z.B. von der Industrie «vorverdaute» Studiendaten oder unkritischenthusiastische Kongressberichte.
Es ist wahr, dass die Frage nach der Qualität einer Information schon immer bestand. Durch die unheimliche Vermehrung der verfügbaren Quellen via Internet stellt sich die Qualitätsfrage jedoch immer häufiger und immer dringlicher. Sehen wir uns nicht vor, so sind wir mit einer Überfülle von Information konfrontiert und am Ende schlechter dran, als wir es waren, als nur Printmedien existierten.
Kein Geschenk
Viele, die von der «evidenz-basierten» Medizin begeistert sind, sehen in der Verflachung der Wissenshierarchie einen wichtigen Schlüssel zur Verbesserung der ärztlichen Tätigkeit. Ich selbst habe meine Meinung in dieser Hinsicht teilweise revidiert: Zwar denke ich nach wie vor, dass alle Ärztinnen und Ärzte – wie auch Fachleute anderer «Gesundheitsberufe» – vom enzyklopädischen Fundus des Internets profitieren und sich so grundsätzlich zu Einzelfragen eine eigene Meinung bilden können.
Es ist aber ein grober Irrtum zu meinen, dies liesse sich im Handumdrehen erledigen. Auch Kolleginnen und Kollegen, die mit den allgemeinen Internetfunktionen, mit den besten Suchstrategien in Datenbanken und mit der englischen Sprache (!) gut vertraut sind, brauchen Zeit und nochmals Zeit, um zuverlässige Antworten auf halbwegs komplexe medizinische Sachfragen zu finden. Warum kostet die «Konsultation» so viel Zeit? Der Grund dafür ist die Tatsache, dass man praktisch immer verschiedene Studiendaten, Beobachtungen und Meinungen zu einer Frage findet. Weil wir aber in der Regel ein konkretes Problem bei einem einzelnen Individuum lösen wollen, sind wir gefordert, aus den verschiedenen Quellen eine Synthese zu bilden und das ist es, was Zeit beansprucht. Da geht es doch viel rascher, der Kollegin oder dem Kollegen aus dem entsprechenden Fachgebiet anzurufen. Allein: wie sicher sind wir, dass wir so eine unvoreingenommene Antwort bekommen?
Das Dilemma lässt sich anhand eines einfachen Beispiels illustrieren: Wann sind Cholinesterasehemmer wie z.B. Donepezil (Aricept®) wirklich indiziert? Liest man nur die Abstracts in der «Cochrane Library», so könnte man annehmen, Cholinesterasehemmer seien zur Behandlung einer Alzheimer-Demenz unterschiedlichen Schweregrades geeignet. Liest man auch die Einzelheiten (Resultate, Diskussion), so tauchen erhebliche Zweifel am Nutzen dieser Medikamente auf. Studiert man schliesslich auch noch die Resultate einer neueren, unabhängigen Doppelblindstudie,4 wird man mit der Beurteilung konfrontiert, der Nutzen von Donepezil sei so gering, dass er klinisch irrelevant sei. Frage ich aber einen Geriater, so muss ich damit rechnen, dass er mir sagt, Cholinesterasehemmer hätten sich seiner Meinung nach bestens bewährt und müssten in der Behandlung der Alzheimer-Krankheit unbedingt berücksichtigt werden. Wie kritisch oder unkritisch beurteilt dieser Kollege seine Therapieerfolge? Hat er allenfalls an Studien teilgenommen und ist dafür bezahlt worden? Weiss er, dass auch die relativ «positive» Cochrane-Übersichtsarbeit zum Schluss kommt, eine vorteilhafte Auswirkung auf die Lebensqualität der Alzheimer-Kranken sei nicht nachgewiesen?
Der verlängerte Arm der Industrie
Die Beurteilung von Studienresultaten ist also alles andere als einfach, selbst wenn es sich um Arbeiten handelt, die methodologisch einwandfrei sind. Wir sind uns oft nicht genügend bewusst, in welchem Ausmass wir durch «Evidenz» aus hoch angesehenen Zeitschriften konditioniert werden. Der frühere Chefredaktor des «British Medical Journal», Richard Smith, bezeichnet medizinische Zeitschriften in einem brillanten Essay als verlängerten Marketing-Arm der pharmazeutischen Industrie.5 Die Industrie hat verständlicherweise kein Interesse an negativen Studienresultaten. Smith beschreibt ausführlich, wie Studien so angelegt werden können, dass sie die erwünschten positiven Ergebnisse zeitigen. So ist oft nicht eindeutig festgelegt, wie sich die Wirkung von Medikamenten am besten erfassen lässt. Dann erfolgt die Beurteilung anhand von Skalen verschiedener Art, die keineswegs immer allgemein anerkannt sind. Es wundert nicht, dass z.B. die Relevanz der bei einer Demenz verwendeten Beurteilungsskalen recht umstritten ist. Liegen dann die (positiven) Resultate vor, so ist es wichtig, dass sie in einer Zeitschrift mit hohem Prestige veröffentlicht werden. Dies ist nicht nur eine ausgezeichnete Werbung, sondern setzt auch die Basis für das Ansehen eines Medikamentes bei den Arzneimittelbehörden und der Ärzteschaft.
Ausser der pharmazeutischen Industrie hat keine Interessengruppe die finanziellen Mittel, für ihr Produkt, ihre Methode oder ihre Intervention ähnlich «evidenzträchtige» Studien durchzuführen. Aus dieser Einsicht sollten wir zwei Folgerungen ableiten: 1. Auch scheinbar methodologisch tadellose Medikamenten- Studien müssen mit grosser Zurückhaltung interpretiert werden; in den meisten Fällen können die Schlussfolgerungen der Studienverantwortlichen nicht tel quel übernommen werden. 2. Verfahren, für die wir nicht oder kaum über «gute» Studien verfügen, sind nicht notwendigerweise so viel schlechter als Medikamente.
Unabhängige Publikationen erwünscht
Smith schlägt vor, die Fachzeitschriften sollten «vielleicht» aufhören, Studienresultate zu veröffentlichen. Diese sollten vielmehr im Internet publiziert werden. Aufgabe der Zeitschriften wäre dann, Studien kritisch zu würdigen. Dieser Vorschlag, so utopisch er sich in Bezug auf die Prestige-Journals anmutet, hat mir einmal mehr bestätigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Natürlich benötigen wir möglichst viele gute Studien, nicht nur im Bereich der Pharmakotherapie. Aber nur unabhängige Publikationen können die Information vermitteln, die wir im medizinischen Alltag benötigen.Etzel Gysling
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