Start und Ziele der Blutdrucktherapie
- Autor(en): Markus Häusermann
- pharma-kritik-Jahrgang 42
, Nummer 3, PK1111
Redaktionsschluss: 9. Oktober 2020 - PDF-Download der Printversion dieses Artikels
Das Wichtigste in Kürze
- Die Diagnostik beginnt mit Blutdruckmessungen in ruhiger Umgebung und mit korrekter Technik. Als Goldstandard gilt derzeit das 24-Stunden-Blutdruckprofil.
- Die beste Evidenz und damit eine unumstrittene Indikation für die Einleitung einer medikamentösen antihypertensiven Therapie besteht für Personen unter 65 ab 140/90, zwischen 65 und 80 Jahren ab 150/90 und über 80 ab 160/90 mm Hg.
- Die Therapieziele richten sich nach bereits etablierten Folgeerkrankungen und nach Alter und zusätzlichen Risikofaktoren. Immer soll ein Blutdruck von unter 150/90 mm Hg angestrebt werden, wenn möglich bis zu 65 Jahren unter 130/80, bei Älteren unter 140/90 mm Hg.
- Für Individuen mit etablierten Folgeerkrankungen und multiplen Risikofaktoren sollten noch niedrigere Werte angestrebt werden; Zielwerte unter 120/70 mm Hg sind jedoch auch bei diesen Personen umstritten.
- Mit höherem Alter ist genauer auf die Verträglichkeit der Behandlung zu achten.
- Jede Blutdrucksenkung, auch wenn die Ziele nicht zu 100% erreicht werden, verhindert Komplikationen und Folgeerkrankungen.
- In 5 bis 10% der Fälle liegt eine sekundäre Hypertonieform vor. Bei einigen von diesen ist primär die zugrunde liegende Erkrankung zu behandeln.
Aufgrund neuer Studien haben seit 2017 internationale Fachgesellschaften in Konsensus-Konferenzen ihre Empfehlungen zur Therapie der Hypertonie revidiert. Vor allem haben sich die Definitionen der Hypertonie und die Schwellen- und Zielwerte für die Behandlung geändert. Dabei können insbesondere die europäischen Richtlinien von ESC (European Society of Cardiology) und ESH (European Society of Hypertension) von 2018 und die amerikanischen Empfehlungen von ACC (American College of Cardiology) und AHA (American Heart Association) von 2017 einander gegenübergestellt werden.1,2 Auch die Hypertonie-Richtlinien des ACP (American College of Physicians) und der AAFP (American Association of Family Physicians) wurden 2017 publiziert.3 Diese gelten speziell für Menschen ab 60 Jahren und gründen sich auf die gleiche Evidenz wie die beiden vorgenannten Empfehlungen, sind aber aus einer Meta-Analyse abgeleitet und kommen interessanterweise zu deutlich anderen Schlussfolgerungen.4 Schliesslich sind auch die Guidelines der Schweiz.Hypertonie-Gesellschaft SHG von 2019 zu erwähnen,5 die ähnlich lauten wie diejenigen der europäischen Gesellschaften.
In der vorliegenden Arbeit soll aus den verschiedenen Richtlinien ein praktikabler gemeinsamer Nenner für die Bestimmung unserer Therapieziele gesucht werden. Dabei ist zu bedenken, dass rund drei Viertel der in der Schweiz wegen einer Hypertonie behandelten Individuen zusätzliche Risikofaktoren aufweisen.6 So muss die Therapie selbstverständlich auch aufgrund weiterer Risiken individualisiert werden, was im Rahmen dieses Textes nicht ausführlich besprochen werden kann. Auch auf die Einzelheiten der Therapie und die Wahl der Medikamente kann in diesem Text nicht eingegangen werden.
Definition der Hypertonie
Die Hypertonie ist ein grundlegender Risikofaktor für arteriosklerotische Herz-Kreislaufkrankheiten. Im Alter von 40 bis 69 Jahren steigt das Risiko ab 115/75 mm Hg mit steigendem Blutdruck exponentiell an: je 20 mm Hg Blutdruck-Erhöhung systolisch und 10 mm Hg diastolisch verdoppelt sich das Risiko, an einer Herz-Kreislauferkrankung zu sterben.7 Einen Überblick zu den unterschiedlichen Definitionen einer Hypertonie vermittelt die Tabelle 1. Das amerikanische Konsenspapier definiert auf dieser Grundlage Normotonie als denjenigen Blutdruck, bei dem das kardiovaskuläre Risiko am geringsten ist, und Hypertonie als jeglichen Blutdruck mit erhöhtem Herz-Kreislaufrisiko. Nach dieser Definition (Sprechstunden-Blutdruck systolisch >120 und/oder diastolisch >80 mm Hg) wären in den USA insgesamt 46% der Erwachsenen von einer Hypertonie betroffen;2 nach der alten Definition von 2012 (systolisch >140 und/oder diastolisch >90 mm Hg) waren dies aufgrund der Daten von 2007-2008 nur knapp 30%, aufgrund derjenigen von 2011–2014 32%.2,8 Dagegen definieren die europäischen Richtlinien die Hypertonie als denjenigen Blutdruck, bei dem der Nutzen einer medikamentösen Senkung den möglichen Schaden überwiegt.1,9,10 Diese unterschiedlichen Ansätze erklären die auf den ersten Blick verwirrend wirkenden Differenzen in den Hypertonie-Definitionen.11
Wie soll der Blutdruck gemessen werden?
Bezüglich der Rahmenbedingungen und der Methode der Blutdruckmessung besteht unter den Fachgesellschaften ein weitgehender Konsens.12 Zu verschiedenen Details des Messverfahrens gibt es allerdings keine sichere Evidenz. So ist es zweifellos sinnvoll, den Blutdruck zwei- oder mehrmals zu messen, solange die Diagnose noch ungesichert ist. Bei den weiteren Kontrollen sind jedoch mehrfache Messungen oft unnötig. Aus praktischen Gründen ist es auch in der Regel nicht möglich, in der Praxis jeweils immer zur selben Zeit zu messen bzw. die Messung immer vor Einnahme der Antihypertensiva vorzunehmen. Auch in Bezug auf die Selbstmessung gibt es noch Fragen: Wie häufig soll gemessen werden? Sind «Handgelenkgeräte» unter der Voraussetzung, dass sich das Handgelenk während der Messung auf Herzhöhe befindet, ebenso zuverlässig wie Oberarmgeräte? Was die Schweiz. Herzstiftung zu diesem Thema publiziert hat, kann als gute und praxisnahe Instruktion empfohlen werden.13 Die wichtigsten Punkte dazu sind in der Tabelle 2 aufgelistet. Dieselben Prinzipien sind auch bei Messungen durch Pflegende und medizinische Praxisassistentinnen zu beachten.
Als Goldstandard der Blutdruckmessung gilt derzeit die (ambulante) Langzeit-Blutdruckmessung, meist über 24 Stunden. Diese sollte an einem Tag mit üblicher Aktivität, also an einem normalen Arbeitstag, durchgeführt werden und auch den nächtlichen Blutdruck erfassen. Am besten mit den kardiovaskulären Erkrankungen korreliert der 24-Stunden-Mittelwert. Dabei muss man sich allerdings bewusst sein, dass diese Aussage im Vergleich mit der grossen Zahl früherer, auf Einzelmessungen beruhenden Daten noch weniger dokumentiert ist. Ein fehlender nächtlicher Blutdruckabfall («dip») gilt als zusätzlicher Risikofaktor. Alternativ kann auch die mehrfache ambulante Blutdruck-Selbstmessung nach dem empfohlenen Verfahren herangezogen werden.13 Diese Werte entsprechen denjenigen, die tagsüber in der 24-Stunden-Messung gefunden werden.12
Zu beachten ist, dass fast allen Therapiestudien Sprechstunden-Blutdruckwerte zugrunde liegen; stützt man sich für Therapieentscheidungen auf Heim- oder 24-Stunden-Messungen, gilt die Korrelation mit den Sprechstundenwerten gemäss Tabelle 3.
Weisskitteleffekt und maskierte Hypertonie
Die «Weisskittel»-Hypertonie («white coat hypertension») bedeutet erhöhte Blutdruckwerte in der Sprechstunde, aber normale Werte bei der Heim- oder 24-Stunden-Messung. Diese Personen haben ein nur minimal erhöhtes Risiko für Folgekrankheiten, können aber im Lauf der Zeit eine therapiebedürftige Hypertonie entwickeln. Der Weisskitteleffekt kann auch unter der Hypertoniebehandlung erhöhte Sprechstundenwerte verursachen und sollte nicht zu unnötiger Therapieeskalation führen.
Die umgekehrte Situation mit normalem Sprechstunden- und erhöhtem Heimblutdruck ist seltener und wird als «maskierte» Hypertonie bezeichnet. Das Risiko für Folgeschäden ist dabei gleich hoch wie bei konstant erhöhtem Blutdruck, so dass diese Personen behandlungsbedürftig sind.1
Wann auf sekundäre Hypertonie abklären?
5 bis 10% der Individuen mit einem erhöhten Blutdruck haben eine sekundäre Hypertonie. An eine sekundäre Hypertonie sollte man insbesondere in folgenden Fällen denken:14
- Akuter Blutdruck-Anstieg bei vorher gut kontrollierter Hypertonie• Erstmanifestation vor der Pubertät
- Erhöhter Blutdruck bei Normalgewichtigen unter 30 bis 40 Jahren
- Maligne oder akzelerierte Hypertonie mit ausgeprägten Organschäden
- Anhaltend deutlich erhöhte Blutdruckwerte trotz optimierter Therapie
Bei Kindern und jungen Leuten sind Erkrankungen des Nierenparenchyms und eine Aortenisthmusstenose mögliche Ursachen. Später kann eine sekundäre Hypertonie durch ein obstruktives Schlafapnoe-Syndrom (bei 5 bis 10% der Fälle) oder weitere Nierenerkrankungen (bei etwa 5%) verursacht sein. Häufiger als gemeinhin angenommen ist der primäre Aldosteronismus mit einer Prävalenz von 5-15% bei Hypertonie. Er ist oft schwierig zu erkennen, da bei der Mehrzahl der Betroffenen die als typisch geltende Hypokaliämie fehlt.15 Nierenarterienstenosen können – besonders bei jungen Frauen – auf einer fibromuskulären Dysplasie und im Alter auf arteriosklerotischen Veränderungen beruhen. Beim letzteren Problem verbessert die Beseitigung der Stenose den Blutdruck oft nicht. Andere Ursachen (z.B. Schilddrüsen-Erkrankungen, Phäochromozytom, medikamentöse Nebenwirkungen) sind seltener.
Definition der optimalen Therapieziele
Schwellen- und Zielwerte der antihypertensiven Therapie sind nicht starr, sondern richten sich in den Empfehlungen nach dem individuellen Risiko für schwere Herz-Kreislauferkrankungen (siehe Tabellen 4 und 5). Zu den klassischen Risikofaktoren und zu den etablierten arteriosklerotischen Herz- und Gefässkrankheiten kommen als modifizierende Faktoren die spezifisch hypertoniebedingten Organschäden, namentlich die linksventrikuläre Hypertrophie, die hypertensive Nephropathie, die Retinopathie und chronische zerebrale Schäden mit lakunären Läsionen und Blutungen hinzu. Sinnvolle Basis-Untersuchungen, die auch zusätzliche Risikofaktoren erfassen, sind Labortests (Blut: Glukose, Lipide, Kreatinin, Kalium; Urin: Mikroskopie, Mikroalbuminurie), eine Untersuchung des Augenhintergrunds und ein EKG. Je nach den Befunden können weitere Untersuchungen wie z.B. ein Echokardiogramm nützlich sein. Die amerikanischen Kardiologengesellschaften ACC und AHA legen bei hohem Risiko das Hauptgewicht auf zwei randomisierte Studien,2 in denen bei Männern und Frauen mit Hypertonie und hohem kardiovaskulärem Risiko die Blutdruckziele von 120 oder 140 mm Hg systolisch verglichen worden sind. In «ACCORD» brachte die intensive Blutdrucksenkung bei 4733 Männern und Frauen mit Typ-2-Diabetes keinen Vorteil bezüglich Herz-Kreislauferkrankungen und mehr schwerwiegende Nebenwirkungen.16 Unter anderem deshalb ist man von der früheren Empfehlung für niedrigere Blutdruckzielwerte bei Diabetes abgekommen. In «SPRINT» mit 9361 Teilnehmenden waren Personen mit Diabetes ausgeschlossen; diese Studie wurde vorzeitig beendet, nachdem in der intensiv behandelten Gruppe (einschliesslich der Personen über 75) signifikant weniger kardiovaskuläre Ereignisse als in der Kontrollgruppe aufgetreten waren (1,65% gegenüber 2,19% pro Jahr).17,18 Diese Studie wird von vielen Fachleuten kritisiert, weil die Blutdruckmessungen unter praxisfremden idealen Studienbedingungen erfolgten, weil in der intensiv behandelten Gruppe mehr schwere Nebenwirkungen auftraten und weil ein vorzeitiger Studienabschluss nach dem Erreichen einer Signifikanz das Resultat zugunsten der Studienbehandlung verzerren kann.19
Konservativere Empfehlungen für Schwellen- und Zielwerte kommen von den europäischen Fachgesellschaften und von den amerikanischen Internisten- und Hausärztegesellschaften ACP und AAFP.1,3 Letztere stützen sich auf eine Meta-Analyse mit der Schlussfolgerung, dass bei Personen ab 60 Jahren die Verhinderung von Folgekrankheiten durch die Therapie nur bis zu einem Blutdruckziel von 150/90 mm Hg eindeutig bewiesen sei. Nach einem Hirnschlag kann eine stärkere Blutdrucksenkung auf Werte unter 140/90 mm Hg das Risiko für einen zweiten Hirnschlag reduzieren, hat aber keinen signifikanten Einfluss auf die Mortalität.4
Weniger untersucht sind die optimalen diastolischen Blutdruckwerte. Eine post-hoc-Analyse der älteren «ONTARGET»- und «TRANSCEND»-Studien ergab bei Personen mit einem systolischen Blutdruck zwischen 120 und 140 mm Hg eine J-Kurve mit dem geringsten Komplikationsrisiko bei einem diastolischen Blutdruck zwischen 70 und 80 mm Hg.20 Dem tragen die europäischen Richtlinien Rechnung, indem sie empfehlen, den systolischen Blutdruck nicht unter 120 und den diastolischen nicht unter 70 mm Hg zu senken.1 Eine isolierte diastolische Hypertonie scheint nicht wesentlich mit einer erhöhten Komplikationsrate assoziiert zu sein; deshalb gibt es auch keine Evidenz zu deren Behandlung.21
Blutdruckziele im hohen Alter
Zur Hypertonie bei Menschen über 80 gibt es bedauerlich wenig zuverlässige Daten. Im hohen Alter sind isolierte systolische Hypertonie, Komorbiditäten, Polymedikation und Medikamenten-Nebenwirkungen sehr häufig, weshalb diese Gruppe in den meisten randomisierten Studien ausgeschlossen worden war. Daten zur Wirksamkeit und Verträglichkeit einer antihypertensiven Therapie bei Personen über 80 Jahren lieferte die multizentrische «HYVET»-Studie.22,23 In dieser Studie erhielten Frauen und Männer dieser Altersgruppe mit einem systolischen Blutdruck über 160 mm Hg Indapamid (Fludex® u.a.) mit oder ohne Perindopril (Coversum N® u.a.) oder entsprechende Placebos mit einem Zielwert von unter 150/80 mm Hg. Die Studie wurde vorzeitig beendet, nachdem in der Behandlungsgruppe weniger Hirnschläge und weniger Todesfälle aufgetreten waren. Diese Resultate sind nicht nur wegen des vorzeitigen Abbruchs umstritten, sondern auch weil die Studie ganz überwiegend in Populationen durchgeführt wurde, bei denen weit mehr Schlaganfälle als in Westeuropa beobachtet werden (Osteuropa, China). Die europäischen Empfehlungen nennen dennoch auch für Menschen über 80 einen Zielbereich von 130-139/70-80 mm Hg, immer eine gute Verträglichkeit vorausgesetzt. Bei polymorbiden oder gebrechlichen Kranken sind mässig höhere Werte wahrscheinlich vorzuziehen. In dieser Altersklasse sind immer Kontrollen auf orthostatische Hypotonie und die Überwachung der Elektrolyte und der Nierenfunktion notwendig.1,2
Sind die neuen Empfehlungen in unserem Alltag umsetzbar?
Studien sind streng genommen nur für diejenige Minderheit der Bevölkerung gültig, die alle Einschluss- und keine der Ausschlusskriterien erfüllt. Wie erwähnt, gibt es wenig Evidenz für sehr alte oder gebrechliche Menschen und Bewohnerinnen und Bewohner von Alters- und Pflegeheimen, da diese in den meisten Studien ausgeschlossen worden sind. Die Auswahl der Teilnehmenden in den beiden Schlüsselstudien «SPRINT» und «ACCORD» wurde hinterher mit den epidemiologischen Daten verglichen: von 107,7 Millionen Amerikanern mit Hypertonie gemäss ACC/AHA-Definition wären 58,8 Millionen intensiviert behandlungsbedürftig.24 Von diesen wären jedoch aufgrund der Ein- und Ausschlusskriterien nur knapp 28% in eine der beiden Studien aufgenommen worden. Die Studienresultate und damit auch die ACC/ASH-Empfehlungen sind deshalb nicht ohne weiteres auf jedermann mit Hypertonie anwendbar. Die niedrigeren Zielwerte werden auch von anderer Seite, unter anderem von der Autorenschaft der kurz zuvor erschienenen ACP/ AAFP-Empfehlungen, als zu wenig fundiert und praxisfremd kritisiert.25,26
In Studien werden Nachkontrollen und Therapieanpassungen durch ein exaktes Protokoll vorgegeben. In der ambulanten Praxis finden Kontrollen in der Regel seltener statt, die Medikamente werden oft nicht konsequent eingenommen, und der Blutdruck befindet sich oft nicht im Zielbereich. Einen beachtenswerten Ansatz entwickelte ein britisches Team in einer Beobachtungsstudie unter «real life»-Bedingungen bei 169'082 Personen mit neu entdeckter Hypertonie. Mit einer einfachen Formel errechneten sie den Zeitanteil, während dessen sich der Blutdruck im Zielbereich befand.27 Die Daten stammen aus den Jahren 1996 bis 2010. 15% der Personen hatten den Zielwert von unter 140 mm Hg systolisch (für über 60-Jährige unter 150) gar nie erreicht und bildeten die Vergleichsgruppe. Bei 23% der Beteiligten befand sich der Blutdruck während 25-49% der Zeit im Zielbereich; bei diesen ereigneten sich 75% weniger Todesfälle und Herz-Kreislaufkrankheiten als in der Kontrollgruppe. Bei guter Blutdruckkontrolle mit über 75% der Zeit im Zielbereich gab es gar 83% weniger Folgeerkrankungen. Daraus können wir zweierlei folgern: 1. in der täglichen Praxis gelingt die perfekte Blutdruckeinstellung nur bei einer Minderheit; 2. jede Blutdrucksenkung, auch wenn die Zielwerte nur während der Hälfte der Zeit erreicht sind, verhindert Folgekrankheiten.
Schlussfolgerungen für die Praxis
Am Anfang jeder Hypertoniebehandlung stehen Erfassung und Diagnose. Wir sollten von jeder Person, die wir betreuen, den Blutdruck kennen. Eine einzelne rasche Messung während der zeitlich gedrängten Sprechstunde kann keine zuverlässige Diagnose ergeben; wer den Aufwand einer mehrmaligen perfekten Blutdruckmessung gemäss Tabelle 2 scheut, dem sei zur Diagnose der Hypertonie die 24-Stunden-Blutdruckmessung ans Herz gelegt. Damit kann auch die gefährliche maskierte Hypertonie sicher erfasst werden – sofern bei normalen Sprechstundenwerten überhaupt der Verdacht auf eine solche vorhanden ist. Als sinnvolle Definition der Hypertonie kann im Einklang mit den europäischen Richtlinien ein Blutdruck von über 140/90 mm Hg bezeichnet werden.
Als bester evidenzbasierter Schwellenwert für eine medikamentöse Behandlung kann ein bestätigter Blutdruck von über 140/90 mm Hg gelten, ab 65 Jahren (sofern keine weiteren Risikofaktoren vorhanden sind) über 150/90 mm Hg. Therapieziel ist eine Blutdrucksenkung auf niedrigere Werte, bei guter Verträglichkeit – besonders bei hohem Risiko für Herz-Kreislauferkrankungen – auch bis unter 130/80, jedoch nie unter 120/70 mm Hg. Zur Verhütung von Folgekrankheiten noch wichtiger als die Höhe der Blutdruck-Zielwerte ist das Einhalten der Therapie über lange Zeit. Zur Überprüfung der Verträglichkeit sind neben der Überwachung von Elektrolyten und Nierenfunktion auch Kontrollmessungen im Stehen zum Erfassen einer orthostatischen Hypotonie und damit von Sturzrisiken zu empfehlen.
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