Impfungen nach dem Säuglingsalter
- Autor(en): Alexandra Röllin
- pharma-kritik-Jahrgang 42
, Nummer 1, PK1097
Redaktionsschluss: 13. Juli 2020 - PDF-Download der Printversion dieses Artikels
Das Wichtigste in Kürze
- Gegen Hepatitis B soll neu schon im Rahmen der Basisimpfung im Säuglingsalter geimpft werden; bei entsprechender Exposition wird aber bei ungeimpften Individuen die Nachimpfung empfohlen.
- Mit der HPV-Impfung können Krebsvorstufen am Muttermund verhindert werden. Kritische Stimmen schätzen allerdings die Datenlage zur Verträglichkeit als ungenügend ein.
- Aufgrund der Ausbreitung der Risikogebiete und steigenden Fallzahlen schwerer FSME-Verläufe ist eine breitere Durchimpfung von exponierten Personen sinnvoll. Der Impfstoff ist gut wirksam, führt aber etwas häufiger zu (meist harmlosen) unerwünschten Reaktionen als andere Impfstoffe.
- Die Wirksamkeit des in der Schweiz erhältlichen Impfstoffes gegen Herpes zoster (Zostavax®) ist relativ bescheiden. Ein Zoster-Impfstoff mit Adjuvans (Shingrix®), aktuell in der Schweiz nicht erhältlich, stellt eine wirksamere Alternative dar.
- Die Grippeimpfung vermag zwar die Zahl von Grippefällen zu reduzieren. Es ist jedoch unklar, ob bei Risikopersonen auch Grippekomplikationen und Todesfälle verhindert werden können.
- Für die Pneumokokkenimpfung sollen auch bei erwachsenen Risikopersonen nur noch PCV13-Impfstoffe verwendet werden.
Nach dem Text über die Basisimmunisierung bei Säuglingen folgt hier eine Übersicht zu den später empfohlenen Impfungen; spezifisch für Auslandreisen empfohlene Impfungen werden in einer zukünftigen Nummer besprochen.
Eine Übersicht zu den Markennamen der hier besprochenen Impfstoffe findet sich in der Tabelle 1i (im Internet).
Hepatitis B
Dank der Impfung können letal verlaufende oder chronische Hepatitis-B-Infektionen vermieden werden; gemäss der WHO sollen weltweit 90% der Bevölkerung geimpft werden, um so bis 2030 die Hepatitis B zu eliminieren.
Hepatitis B-Impfstoffe basieren auf dem Virus-Oberflächenprotein HBs-Antigen; sie gelten als sehr gut immunogen und verträglich. Ein früher vermuteter Zusammenhang mit einem Guillain-Barré-Syndrom oder mit multipler Sklerose konnte nie bestätigt werden. Langzeitstudien belegen einen mindestens 30 Jahre dauernden Impfschutz. Es sind verschiedene Einzel- und Kombinationsimpfstoffe erhältlich, die als gleichwertig gelten (1).
Neu wird seit dem Impfplan 2019 empfohlen, Säuglinge auch gegen Hepatitis B im Rahmen der Basisimmunisierung mit drei Dosen der hexavalenten Impfstoff-Kombination zu impfen. Diese Neuerung beruht hauptsächlich auf epidemiologischen und praktischen Überlegungen – das Risiko von Kindern, sich in der Schweiz mit Hepatitis B anzustecken, ist zwar äusserst gering, eine konsequente Durchimpfung von Jugendlichen ist jedoch nicht ganz einfach zu bewerkstelligen, wohingegen die Umstellung auf die hexavalente Basisimpfung keinen grossen Aufwand bedeutet.
Die Impfempfehlung für bisher nicht gegen Hepatitis B geimpfte Jugendliche sowie Risikopersonen bleibt jedoch bestehen. Sofern die Impfung vor dem 16. Geburtstag begonnen wird, sind 2 Dosen empfohlen (0 und 6 Monate), ansonsten 3 Dosen (eine zusätzliche Dosis 1 Monat nach der ersten Dosis). Eine serologische Erfolgskontrolle nach der Impfung wird nur bei Erwachsenen mit beruflicher Exposition empfohlen (1-2 Monate nach der 3. Injektion der Grundimmunisierung). Bei einem Anti-HBs-Titer von über 100 IE/l kann mit einem lebenslangen Impfschutz gerechnet werden (2).
Die Verlegung als Basisimpfung ins Säuglingsalter und die dadurch erfolgte Anpassung an internationale Gepflogenheiten sind bei dieser gut verträglichen und wirksamen Impfung sicher sinnvoll.
Meningokokken
Invasive Meningokokkeninfekte (Meningitis, Sepsis) sind selten, verlaufen jedoch meist fulminant und enden oft tödlich, auch bei Personen mit normalem Immunsystem. Warum dies geschehen kann, obwohl ungefähr 15% der Bevölkerung asymptomatische Träger dieser Bakterien sind, bleibt unklar. Heute wird nur noch die Verwendung des quadrivalenten Konjugatimpfstoffs gegen die Gruppen A, C, W und Y (MCV-ACWY) empfohlen. Dieser Totimpfstoff gilt als gut immunogen und verträglich. Die nur gegen Meningokokken der Serogruppe C aktiven Konjugatimpfstoffe (MCV-C) sollen lediglich in speziellen Situationen verwendet werden, beispielsweise wenn MCV-ACWY nicht verfügbar ist (1,3).
Als ergänzende Impfung wird empfohlen, Kinder im Alter von 24 Monaten sowie Jugendliche im Alter von 11-15 Jahren mit je einer Dosis MCV-ACWY zu impfen. Auch Personen mit erhöhtem Risiko für einen invasiven Meningokokkeninfekt (z.B. bei Immundefekt oder Expositionsrisiko wie bei Rekruten, bei Reisen oder Arbeit in einem Labor) sollen geimpft werden. Die Anzahl notwendiger Impfdosen hängt vom Alter und Immunstatus ab; bei fortbestehendem Risiko soll alle 5 Jahre eine Auffrischimpfung erfolgen (2,3).
Eine wirksame und gut verträgliche Impfung, die sich bei Risikopersonen sicher lohnt. Ob man gesunde Kinder und Jugendliche mit doch recht geringem (aber potentiell tödlichem) Risiko auch impfen soll, muss individuell entschieden werden.
HPV
Humane Papillomaviren (HPV) sind die Krankheitserreger, die sexuell am häufigsten übertragen werden. Je nach Virustyp kann das Virus gutartige, aber lästige Genitalwarzen, aber auch verschiedene Krebserkrankungen verursachen. Viele infizieren sich zwar im Laufe des Lebens mit verschiedenen Virustypen, eliminieren diese aber wieder. Bei Personen, bei denen die Infektion fortbesteht, kann es zu Zellveränderungen des betroffenen Organs kommen. Besonders häufig davon betroffen ist der Muttermund: das fast immer HPV-assoziierte Zervixkarzinom ist eines der häufigsten Karzinome bei Frauen.
Der nur selten verwendete bivalente Impfstoff Cervarix® schützt zuverlässig gegen die beiden wichtigsten HPV-Typen 16 und 18, die für rund 60% aller prämalignen Läsionen der Zervix verantwortlich sind. Gardasil 9® (der Impfstoff, der seit 2019 das quadrivalente Gardasil® ersetzt) schützt zusätzlich gegen die durch HPV6 und 11 verursachten Genitalwarzen und gegen fünf weitere Virustypen, die zusammen weitere 25-30% aller Krebsvorstufen der Zervix verursachen.
Die Impfung schützt am besten, wenn jemand noch nicht mit diesen Viren in Kontakt gekommen ist. Deshalb sollte die Impfung möglichst vor Beginn der sexuellen Aktivität erfolgen. Eine spätere Impfung kann jedoch vor weiteren Virusstämmen schützen und bietet möglicherweise auch einen gewissen Schutz gegen eine erneute Infektion.
Alle Impfstoffe induzieren eine gute Immunität und verhindern nachgewiesenermassen einen Grossteil aller prämalignen Läsionen am Muttermund; zu Gardasil 9® fehlen allerdings noch Langzeitstudien. Gardasil 9® führt zu etwas häufigeren und stärkeren Lokalreaktionen als seine Vorgänger, was wohl auf den etwas höheren Anteil eines Aluminium-haltigen Adjuvans zurückzuführen ist. Schwerwiegendere unerwünschte Wirkungen werden kaum beschrieben. Die Harmlosigkeit der HPV-Impfung wurde allerdings wiederholt in Frage gestellt. Es wurde vor gehäuften Synkopen nach HPV-Impfung gewarnt: dies ist wohl darauf zurückzuführen, dass bei Jugendlichen Synkopen nach Injektionen allgemein öfter vorkommen. Diesem Problem kann durch die Durchführung im Liegen vorgebeugt werden. Auch ein Zusammenhang mit einem Guillain-Barré-Syndrom wurde vermutet, jedoch nie in grösseren Studien bestätigt (1,4-6)
In der Schweiz wird die Basisimpfung von Mädchen im Alter von 11-14 Jahren mit zwei Dosen Gardasil 9® im Abstand von 6 Monaten empfohlen. Bei Immunschwäche oder wenn nur eine der beiden Impfungen vor dem 15. Geburtstag erfolgt, sollen 3 Dosen verabreicht werden. Dabei ist zwischen der 1. und 2. Dosis ein Mindestabstand von einem und zwischen der 2. und 3. Dosis von drei Monaten einzuhalten.
Als Nachholimpfung sollen alle ungeimpften jungen Frauen bis zum 20. Geburtstag drei Dosen des Impfstoffes erhalten. Ergänzend können auch Frauen im Alter von 20-26 Jahren (3 Dosen), Knaben (im Alter von 11-14 Jahren, 2 Dosen) oder junge Männer (15-26 Jahre, 3 Dosen) geimpft werden. Eine mit dem bi- oder quadrivalenten Impfstoff begonnene Impfserie darf gemäss Expertenmeinung mit Gardasil 9® weitergeführt werden. Die Impfung wird nur vergütet, wenn sie in Abstimmung mit diesen Empfehlungen und im Rahmen eines kantonalen Impfprogrammes erfolgt (2).
Trotz der Euphorie darüber, dass die HPV-Impfung Krebsvorstufen am Muttermund verhindern kann, soll nicht vergessen werden, dass es auch unter Fachleuten noch Stimmen gibt, die die mehrheitlich positive Beurteilung in Frage stellen. Die überwiegende Zahl der Studien ist von der Industrie finanziert worden, was die objektive Beurteilung von unerwünschten Wirkungen erschwert (7).
FSME
Das durch Zecken übertragene Frühsommer-Meningoenzephalitis-Virus (FSME) führt bei einem Teil der Infizierten zu einer akuten Meningoenzephalitis, die in Einzelfällen zu bleibenden neurologischen Schäden führen oder gar tödlich verlaufen kann. In den letzten Jahren hat die Zahl solcher Fälle in der Schweiz deutlich zugenommen. Da das FSME-Virus gleich bei Beginn eines Zeckenstiches übertragen wird, kann – anders als bei den Borrelien – die rasche Entfernung einer Zecke eine allfällige FSME-Infektion nicht verhindern. Neben Verhaltensmassnahmen (z.B. Socken über lange Hosen stülpen, Anwendung von Repellents) stellt die Impfung die einzige Möglichkeit dar, eine Infektion zu verhindern.
In der Schweiz sind zwei Impfstoffe im Handel, die als gleichwertig gelten. Beide induzieren nach der empfohlenen Grundimmunisierung mit 3 Injektionen in 96-99% einen schützenden Antikörpertiter. Nach epidemiologischen Beobachtungen scheint die klinische Wirksamkeit sehr hoch zu sein. In der Regel ist ab zwei Wochen nach der zweiten Impfdosis ein vorübergehender Schutz vorhanden; in dringlichen Situationen kann ein Schnell-impfschema verwendet werden.
Schwere anaphylaktische Impfreaktionen kommen kaum mehr vor, seit die Impfstoffe kein Polygelin mehr enthalten. Bei bis zu einem Drittel der Geimpften kommt es zu Lokalreaktionen und bei 10-22% zu systemischen unerwünschten Wirkungen wie Kopfschmerzen, Übelkeit, Myalgien, oder Arthralgien. Bei 6-24% der geimpften Kinder tritt Fieber auf, bei Erwachsenen nur selten. Neurologische Nebenwirkungen sind äusserst selten (1:70'000 bis 1:1 Mio) (1,8,9).
Alle Kinder ab 6 Jahren und Erwachsene, die in Risikogebieten gegenüber Zecken exponiert sind, sollen geimpft werden. Seit 2019 gilt fast die ganze Schweiz (ausser die Kantone Genf und Tessin) als Risikogebiet. Aufgrund einer Praxisstudie aus dem Kanton Schaffhausen und weiteren Untersuchungen werden in der Schweiz Auffrischimpfungen nur alle 10 Jahre empfohlen. In anderen Ländern (wie auch in der Schweizer Produkteinformation) werden Auffrischimpfungen bereits nach 3 bis 5 Jahren empfohlen (2,10).
Aufgrund der steigenden Fallzahlen und kontinuierlichen Ausbreitung der Risikogebiete ist eine breitere Durchimpfung gegen FSME wohl gerechtfertigt, auch wenn der Impfstoff häufig (zwar zumeist harmlose) unerwünschte Wirkungen verursacht. Dass sich die Empfehlung des BAG zu den Auffrischimpfungen von den Angaben im Beipackzettel unterscheidet, sorgt zwar gelegentlich für Diskus-sionsbedarf, stellt aber einen mutigen und medizinisch sinnvollen Entscheid dar.
Varizellen
Eine Varizellen-Erkrankung (Windpocken) ist bei Erwachsenen zwar selten (etwa 4% aller Fälle), doch der Verlauf ist häufiger kompliziert. Zudem kann eine Erstinfektion während der Schwangerschaft zum gefürchteten kongenitalen Varizellensyndrom führen.
Gegen das Varicella-Zoster-Virus steht ein attenuierter Lebendimpfstoff mit guter Wirksamkeit zur Verfügung. Nach der zweiten Impfdosis konnten bei über 99% der Geimpften protektive Antikörper nachgewiesen werden. Auch ein guter Langzeitschutz ist belegt. Die Impfung wird in der Regel problemlos vertragen, gelegentlich treten Schmerzen an der Injektionsstelle, eine lokale Schwellung/Rötung oder Fieber auf. Schwerwiegendere Komplikationen wie durch das Impfvirus verursachte Varizellen, Pneumonie, Hepatitis oder Meningitis sind äusserst selten. In der Schweiz sind derzeit zwei Einzelimpfstoffe und zwei mit MMR kombinierte Impfstoffe erhältlich. Bei den letzteren ist das Risiko für Fieberkrämpfe bei Kleinkindern bis zu 2 Jahren leicht erhöht (1 zusätzlich pro 2’300-2’700 geimpfte Kinder) (1,11).
In der Schweiz wird empfohlen, Jugendliche im Alter von 11 bis 15 Jahren gegen Varizellen zu impfen, sofern sie die Erkrankung bis dahin noch nicht durchgemacht haben. Es sollten zwei Impfdosen im Abstand von mindestens vier Wochen verabreicht werden. Kinder mit einem erhöhten Risiko für einen schweren Verlauf der Erkrankung (Neurodermitis, verminderte zellvermittelte Immunität) können eventuell schon ab dem 13. Monat geimpft werden. Diese Kinder haben aber ein höheres Risiko für unerwünschte Impferscheinungen. Allenfalls kann das nahe Umfeld des betroffenen Kindes geimpft werden. Eine generelle Impfung aller Kinder wird derzeit nicht empfohlen (2).
Der Impfstoff ist gut wirksam und verträglich. Die Erkrankung verläuft aber bei Kindern zumeist harmlos. Die Schweizer Empfehlungen, erst im Jugendalter zu impfen, sind deshalb sinnvoll.
Herpes zoster (Gürtelrose)
In höherem Alter und bei eingeschränktem Immunsystem führt die Reaktivierung einer latenten Varizelleninfektion häufiger zu einem Herpes zoster, der dann teilweise auch einen komplizierteren Verlauf aufweist.
Der in der Schweiz erhältliche Zoster-Impfstoff Zostavax® enthält dieselben abgeschwächten Viren, die für die Varizellenimpfstoffe verwendet werden, in höherer Dosis. Dieser Impfstoff hat aber besonders bei Älteren keine hohe Wirksamkeit. Nur 18% der Personen, die im Alter über 80 geimpft werden, sind geschützt (1,12,13).
Seit 2018 ist in vielen Ländern (aber bislang nicht in der Schweiz) ein neuer Impfstoff (Shingrix®) erhältlich, der neben dem Oberflächenglykoprotein E des Varizellenvirus ein liposomales Adjuvans enthält. Studien zeigen eine viel bessere Wirksamkeit (>90% in allen Altersstufen) und auch einen besseren Langzeitschutz, aber offenbar auch etwas mehr unerwünschte Impferscheinungen (Muskelschmerzen, Kopfschmerzen, Fieber, bullöse Lokalreaktionen, möglicherweise auch Zoster-Rezidive). Dieser Impfstoff muss – im Gegensatz zu Zostavax® (Korrigendum beachten!)– nur gekühlt (nicht gefroren) aufbewahrt werden und kann auch immunkompromittierten Personen verabreicht werden. Langzeitdaten sind allerdings nur spärlich vorhanden (14).
In der Schweiz wird empfohlen, Personen im Alter von 65 bis 79 Jahren und solche ab 50 Jahren, bei denen in absehbarer Zeit eine Beeinträchtigung des Immunsystems zu erwarten ist, einmalig mit Zostavax® zu impfen.2 In Anbetracht der geringen Wirksamkeit von Zostavax® muss diese Empfehlung aber in Frage gestellt werden. Obwohl zu Shingrix® einige Fragen noch offen sind, ist es doch äusserst bedauernswert, dass dieses Präparat in der Schweiz aus unklaren Gründen nicht offiziell verfügbar ist. Es kann zwar problemlos über eine Apotheke im Ausland bestellt werden, wird aber nicht von der Krankenkasse vergütet.
Influenza
In der Schweiz führt die Grippe jedes Jahr zu 112'000 bis 275'000 Arztkonsultationen, zu mehreren tausend Hospitalisationen und zu mehreren hundert Todesfällen. Davon betroffen sind vorwiegend Menschen mit einem erhöhten Komplikationsrisiko (Schwangere, Frühgeborene, ältere Personen und Menschen mit gewissen Vorerkrankungen), 90% der Todesfälle ereignen sich bei Personen ab 65 Jahren.
Neu werden in der Schweiz voraussichtlich hauptsächlich quadrivalente Totimpfstoffe gegen Grippe erhältlich sein. Gemäss einer aktuellen Meta-Analyse müssen 71 gesunde Erwachsene, oder 30 Personen über 65 geimpft werden, um einen Grippefall zu verhindern. Die Impfung beeinflusst das Risiko von Hospitalisationen, die Absenzen bei der Arbeit, Grippe-Komplikationen und die Sterblichkeit aber nur wenig oder gar nicht (15,16).
Die aktuellen Empfehlungen stützen sich hauptsächlich auf Kohortenstudien, die ein grosses Risiko von Verzerrungen mit sich bringen. In randomisierten Studien wurden die erwähnten Endpunkte entweder nicht untersucht, wiesen zu wenig Aussagekraft auf oder man konnte keinen relevanten Nutzen nachweisen. Die Wirksamkeit der Grippeimpfung wird wohl gerade bei der Population mit dem höchsten Komplikationsrisiko überschätzt, denn trotz einem immer höheren Durchimpfungsgrad der Bevölkerung konnte die gesamte Grippesterblichkeit nicht in relevantem Masse reduziert werden (17,18).
Zur Wirksamkeit der Impfung bei chronischen Erkrankungen sowie bei Personen, die im Gesundheitswesen tätig sind, ist die Datenlage ebenfalls wenig überzeugend. Der (aktuell noch trivalente) Impfstoff FluadÒ soll dank eines speziellen Adjuvans eine bessere Immunantwort erzielen, überzeugende Studien zu einer klinischen Überlegenheit existieren jedoch nicht. Die Grippeimpfung gilt als gut verträglich; gelegentlich kann es zu Lokalreaktionen, Fieber und weiteren grippeartigen Symptomen kommen, ein Zusammenhang mit schweren, insbesondere neurologischen Komplikationen (z.B. Guillain-Barré-Syndrom) konnte bis heute nicht sicher nachgewiesen werden.
In der Schweiz wird die jährliche Grippeimpfung primär empfohlen bei Personen ab 65 Jahren oder mit einem aus anderen Gründen erhöhten Komplikationsrisiko (Schwangere, Frühgeborene, bei chronischen Vorerkrankungen), sowie bei solchen mit engem Kontakt zu Risikopersonen (z.B. medizinisches Personal, Familienangehörige, Säuglingsbetreuung). Die Impfung wird einmal jährlich verabreicht, idealerweise zwischen Mitte Oktober und Mitte November. Kleinkinder mit chronischen Erkrankungen können ab 6 Monaten gegen Grippe geimpft werden; erfolgt dabei die erstmalige Impfung im Alter von weniger als 8 Jahren, so sollen zwei Dosen im Abstand von 4 Wochen verabreicht werden (unter 36 Monaten: 2-mal die halbe Dosis) (2).
Die Grippeimpfung scheint zwar in jeder Alterskategorie Krankheitsfälle verhüten zu können. Ob hingegen das Hauptziel der offiziellen Empfehlungen – nämlich Grippekomplikationen und Todesfälle bei Risikopersonen zu verhindern – erreicht wird, bleibt umstritten. Auch existieren keine verlässlichen Daten, welche ein Impf-Obligatorium für Angestellte im Gesundheitswesen rechtfertigen würden.
Pneumokokken
Die Impfung gegen Pneumokokken wird zur Verminderung von invasiven Infektionen bei Säuglingen und bei anderen Risikopersonen empfohlen.
In der Schweiz sind ein 23-valenter Polysacccharidimpfstoff (PPV 23) und ein konjugierter 13-valenter Impfstoff (PCV13) erhältlich. Die Wirksamkeit des bis 2014 bei erwachsenen Risikopersonen verwendeten PPV 23 ist fraglich, weshalb die Verwendung dieses Impfstoffes nicht mehr empfohlen wird (19). Die Anwendung von PCV13 bei Kindern ist seit längerem etabliert und die gute Wirksamkeit des Impfstoffes in dieser Alterskategorie überzeugend nachgewiesen. Zur Anwendung bei Personen ab 65 Jahren liegt seit 2015 eine grössere randomisierte Studie vor, in welcher eine Wirkung gegen Pneumonien und andere invasive Pneumokokkenerkrankungen gezeigt werden konnte, die auf einen der im Impfstoff enthaltenen Bakterienstämme zurückzuführen waren, nicht aber gegenüber Pneumonien jeglicher Ursache (20).
Risikopersonen jeglichen Alters sollen mit einer Dosis des konjugierten 13-valenten Pneumokokkenimpfstoffs (PCV13) geimpft werden. Offiziell ist der Impfstoff in der Schweiz nur für Kinder bis zu 5 Jahren zugelassen, so dass es sich um eine «off label»-Anwendung handelt und deshalb die Kosten nicht von der Krankenkasse übernommen werden müssen (2).
Trotz der noch limitierten Datenlage zu PCV13 bei Erwachsenen ist die neue Empfehlung sinnvoll. Schade nur, dass die offizielle Zulassung in der Schweiz nicht mit dieser Entwicklung Schritt hält.
Nachhol- und Auffrischimpfungen
Nachholimpfungen sind von den Auffrischimpfungen (Boosterimpfungen, Injections de rappel) zu unterscheiden. Nachholimpfungen betreffen Personen, welche keine vollständige Grundimmunisierung erhalten haben. Bei gewissen Basisimpfungen (z.B. Diphtherie, Tetanus und Poliomyelitis) ist eine Nachholimpfung in jedem Alter empfohlen, andere sind nur bis zu einem gewissen Alter indiziert (z.B. Haemophilus influenzae (Hib) bis zum 5. Geburtstag). Je nach Alter und Impfstatus werden unterschiedliche Nachhol-Impfschemata empfohlen.
Auffrischimpfungen hingegen erfolgen nach kompletter Grundimmunisierung und dienen dazu, das immunologische Gedächtnis aufzufrischen und so die Dauer des Impfschutzes zu verlängern. Hier die entsprechenden Empfehlungen:
Diphtherie-Tetanus
Im Alter von 4-7 Jahren, von 11-15 Jahren und von 25 Jahren wird je eine Auffrischimpfung empfohlen, anschliessend alle 20 Jahre bis zum 65. Lebensjahr, danach wieder alle 10 Jahre. Die Häufigkeit lokaler Nebenwirkungen nimmt mit dem Alter und der Anzahl verabreichter Dosen zu. Bei Kinder ab 7 Jahren und bei Erwachsenen muss deshalb der Impfstoff mit reduzierter Antigendosis (dTpa) verwendet werden. Bei Versorgungsengpässen mit DTPa kann schon die Auffrischimpfung im Alter von 4-7 Jahren mit dTpa erfolgen.
Pertussis
Analog zum Schema bei Diphtherie-Tetanus werden auch Pertussis-Auffrischimpfungen bis zum 25. Lebensjahr empfohlen. Kontaktpersonen von Säuglingen unter 6 Monaten sollen auch im weiteren Verlauf des Lebens alle 10 Jahre geimpft werden, insbesondere wird empfohlen, schwangere Frauen vor der Geburt zu impfen. Da kein monovalenter Impfstoff für Pertussis zur Verfügung steht, kann diese Empfehlung mit derjenigen für die Di-Te-Auffrischimpfungen in Konflikt geraten.
Poliomyelitis
IPV sollte im Alter von 4-7 Jahren einmalig aufgefrischt werden, später nur noch bei Reisen in Länder, in denen in den letzten Jahren Poliofälle aufgetreten sind oder bei anderweitiger Exposition (Arbeit im Labor o.ä.).
MMR, Hepatitis B, Hib und Pneumokokken
Für diese Impfungen werden keine routinemässigen Auffrischimpfungen empfohlen.
Korrigenda
Literatur
- 1) Anon. WHO Vaccine Position Papers
- 2) Anon. BAG Schweizerischer Impfplan 2020
- 3) Anon. Anpassungen der Impfempfehlungen zum Schutz vor invasiven Meningokokken-Erkrankungen. BAG Bul-letin 2018 Nov 12 (Woche 46); 14-21
- 4) Dietrich L, Notter J, Huber B et al. HPV-Impfung: Update 2019 für die Impfberatung. Swiss Med Forum 2019; 19: 220-226
- 5) Arbyn M, Xu L, Simoens C et al. Prophylactic vaccination against human papilloviruses to prevent cervical can-cer and its precursors. Cochrane Database Syst Rev 2018 May 9; 5: CD009069
- 6) Arnheim-Dahlström L, Pasternak B, Svanström H et al. et al. Autoimmune, neurological, and venous thrombo-embolic adverse events after immunisation of adolescent girls with quadrivalent human papill
- 7) Little DT, Ward HR. Ongoing inadequacy of quadrivalent HPV vaccine safety studies. BMJ Evidence-Based Medicine Apr 2020, 25: 44-45
- 8) Demicheli V, Debalini MG, Rivetti A. Vaccines for preventing tick-borne encephalitis. Cochrane Database Syst Rev 2009; 1: CD000977
- 9) Anon. Empfehlungen zur Impfung gegen Zeckenenzephalitis. BAG Bulletin 2006 (Woche 13); 225-31
- 10) Kind Al, Ritzmann P, Marty F et al. Der Impfschutz gegen die Zeckenenzephalitis hält viel länger als bisher an-genommen. Schweiz Ärzteztg 2007; 88: 1903-6
- 11) Watson B. A review of varicella vaccine. Pedriatr Ann 2001 June; 30: 362-7
- 12) Oxman MN, Levin MJ, Johnson GR et al. A vaccine to prevent herpes zoster and postherpetic neuralgia in older adults. N Engl J Med 2005 Jun 2; 352: 2271-84
- 13) Schmader KE, Levin MJ, Gnann JW et al. Efficacy, safety and tolerability of herpes zoster vaccine in persons aged 50-59 years. Clin Infect Dis 2012 Apr; 54: 922
- 14) Anon. Shingrix – an adjuvanted, recombinant herpes zoster vaccine. Med Lett Drugs Ther 2017 Dec 4; 59: 195-6
- 15) Demicheli V, Jefferson T, Ferroni E et al. Vaccines for preventing influenza in healthy adults. Cochrane Data-base Syst Rev 2018; 2: CD001269
- 16) Demicheli V, Jefferson T, Di Pietrantonj Cet al. Vaccines for preventing influenza in the elderly. Cochrane Database Syst Rev 2018; 2: CD004876
- 17) Gardam M, Lemieux C. Mandatory influenza vaccination? First we need a better vaccine. CMAJ 2013; 185: 639-40
- 18) Anderson ML, Dobkin C, Gorry D. Effect of influenza vaccination for the elderly on hospitalization and mortali-ty: an observational study with a regression discontinuity design. Ann Intern Med 202
- 19) Huss A, Scott P, Stuck AE et al. Efficacy of pneumococcal vaccination in adults: a meta-analysis. CMAJ 2009 Jan 6; 180: 48-58
- 20) Bonten MJM, Huijts SM, Bolkenbaas M et al. Polysaccharide conjugate vaccine against pneumococcal pneu-monia in adults. N Engl J Med 2015 Mar 19; 372; 1114-25
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