Hundert Medikamente
- Autor(en): Etzel Gysling
- pharma-kritik-Jahrgang 40
, Nummer 7, PK1056
Redaktionsschluss: 26. November 2018
DOI: https://doi.org/10.37667/pk.2018.1056 - PDF-Download der Printversion dieser pharma-kritik Nummer
Jetzt ist es dann schliesslich – fast wider Erwarten – doch so weit, dass die Neuausgabe unseres «Buches» über 100 wichtige Medikamente erscheinen kann. Die letzte Ausgabe (aus dem Jahr 2005) haben wir vor Jahren noch einmal nachdrucken lassen, ist jedoch schon längst wieder vergriffen. Die Nachfrage nach diesem doch recht bescheidenen Hilfsmittel hält aber an. Nachdem ich mich in den letzten Monaten intensiv mit den Inhalten der neuen Ausgabe befasst habe, kann ich dazu einiges berichten.
Da ist zunächst die Frage nach der Auswahl der hundert Medikamente. Natürlich ist die Zahl 100 willkürlich gewählt und es liesse sich argumentieren, für die Alltagspraxis seien nur gerade 70 oder 80 wirklich von Bedeutung – es wäre auch ein Leichtes, zweihundert oder noch mehr wichtige Medikamente zu definieren. Die bewusste Beschränkung auf hundert Wirkstoffe macht es jedenfalls nicht einfach, eine gute Auswahl zu treffen. Dies ist bei einer Neuauflage eine fast noch heiklere Frage als beim ersten Mal. Welche Medikamente, die vor rund 14 Jahren noch quasi selbstverständlich dazugehörten, soll oder kann man ersetzen? Der Entscheid, einzelne Klassiker wie Digoxin oder Diazepam wegzulassen, fällt vergleichsweise leicht. Schwieriger ist es, wenn sich in einer Medikamentengruppe Nachfolgepräparate in der Praxis gegen die Prototypen durchgesetzt haben – Aciclovir (Zovirax® u.a.) ist zwar das «erste Antiherpes-Mittel» und nach wie vor das einzige, dass in zahlreichen galenischen Formen erhältlich ist; in der Praxis ist es aber weitgehend durch Präparate ersetzt worden, die eine unkompliziertere Verabreichung ermöglichen. Man muss deshalb auch solche Fragen mit einem Ermessensentscheid beantworten.
Es wäre jedenfalls falsch anzunehmen, diese hundert Medikamente seien die wichtigsten oder die besten (immer vorausgesetzt, dass sich eine solche Beurteilung überhaupt mit genügender Evidenz dokumentieren liesse). Ich will zwar nicht bestreiten, dass das Buch auch einen gewissen edukativen Wert haben sollte. Anderseits würde ich es für überheblich halten, wenn nicht auch das Kriterium «häufig verschrieben» mitberücksichtigt würde. So hat es dann auch in der neuen Fassung das eine oder andere Medikament, das ich persönlich nicht verschreiben würde (obwohl es sehr beliebt ist). Die einzige Ausnahme von dieser Regel betrifft Metamizol (Novalgin®, Dipyron, Novaminsulfon), das sich mit Sicherheit nicht unter den hundert wichtigen finden wird. Auch wenn diese Substanz – zum Mindesten in der Deutschschweiz – tatsächlich sehr häufig verschrieben wird, kann ich es nicht verantworten, ein derart ungenügend dokumentiertes Arzneimittel als wichtig zu bezeichnen.
Nun sind viele der in diesem Buch vertretenen Mittel «gute alte Freunde», die man bestens zu kennen glaubt. Es ist deshalb eher überraschend, dass kein einziges der früheren Kapitel tel quel übernommen werden kann. Auch das älteste wichtige Arzneimittel – Eisen, 1681 in die Therapie eingeführt – muss heute etwas anders beurteilt werden als noch im Jahr 2005. Nachdem ich anfänglich gedacht hatte, wir sollten nur wenige Substanzen durch neue Mittel ersetzen, zeigte es sich bald einmal, dass dies nicht ganz zutrifft. So verdrängen jetzt rund fünfundzwanzig neue (d.h. nicht alles neue, sondern andere) Medikamente frühere «wichtige». Natürlich sind quasi alle Mittel, die da so schnell aus dem Buch hinausgekickt werden, immer noch valable Therapeutika. Wir werden uns etwas einfallen lassen, um die entsprechenden Informationen – vielleicht in einer aktualisierten Online-Form – weiterhin verfügbar zu machen.
Wirklich verschwunden ist seit der letzten Ausgabe (2005) kein einziger der im Buch berücksichtigten Wirkstoffe. Chlortalidon (Hygroton®) ist zwar nicht mehr als Monopräparat erhältlich und Thiamazol (Tapazole®) nur noch in Form des Pro-Drugs (Carbimazol, Néo-Mercazole®). Beide sind jedoch in anderen Ländern als normale Monopräparate weiterhin erhältlich und sind zweifellos immer noch gute Medikamente. (Selbst von den in der 1994er Ausgabe des Buches beschriebenen Medikamente sind erst fünf verschwunden.) Ob es auch bei der neuen Version des Buches gelingen wird, immer ähnlich sichere Werte zu berücksichtigen, ist natürlich schwer vorherzusagen. Besonders bei den neueren Antidiabetika, aber auch bei den direkten Antikoagulantien ist der Stellenwert der verschiedenen Medikamente noch ungewiss.
Überhaupt hat mich überrascht, wie viele (auch durchaus relevante) Einzelheiten zu wichtigen Medikamenten nicht nur mir persönlich bisher entgangen sind, sondern allgemein nicht verfügbar oder schwer auffindbar sind. Dabei handelt es sich oft um Mittel, die tagtäglich von vielen Tausenden eingenommen werden. Ein Beispiel: Der Missbrauch von Loperamid (Imodium® u.a.) mag ein amerikanisches Phänomen sein – es ist dennoch ungenügend, wenn das arrhythmogene Potential hoher Loperamid-Dosen im Kompendium nur gerade bei den Symptomen einer Überdosierung erwähnt wird. (Offenbar können bereits zwanzig 2-mg-Tabletten zu einer gefährlichen QT-Verlängerung führen.) Generell sind mir die Informationsdefizite besonders bei den Interaktionen und den Kinderdosierungen aufgefallen. Die Industrie hat nur ein minimales Interesse daran, ergänzende Informationen aktiv zu beschaffen – ohne entsprechende (von den Arzneimittelbehörden angeordnete) Verpflichtungen sind die Chancen gering, dass entsprechende Studien durchgeführt werden.
Offizielle Texte zu den Interaktionen (wie z.B. im Arzneimittelkompendium) entsprechen einer Art von Wundertüten. Sie enthalten neben nützlichen Angaben oft auch eine Menge von belanglosen oder veralteten Details. Medikamente, die sich dort finden, sind zum Teil in der Schweiz gar nicht erhältlich (z.B. Warfarin) oder seit vielen Jahren verschwunden (Chloramphenicol, Cisaprid, Guanethidin, Phenylbutazon – man kann es kaum glauben). Die Interaktions-Wundertüte wirft ein ungünstiges Licht auf die Qualität der offiziellen Information und man fragt sich, wer denn eigentlich für die Aktualisierung dieser Informationsquelle verantwortlich ist.
Wie schon die früheren Ausgaben ist auch die neue Version der «hundert Medikamente» ein Gemeinschaftswerk des Infomed-Teams. Etwa die Hälfte der Kapitel sind von mir verfasst, die andere Hälfte beruht auf den Texten der Kolleginnen und Kollegen. Publiziert werden schliesslich die vom Team nochmals überarbeiteten Texte. Ich bin sehr dankbar, dass diese Zusammenarbeit auch diesmal so gut geklappt hat, entspricht sie doch einer (neben pharma-kritik und infomed-screen) erheblichen Mehrarbeit.
Trotz den zahlreichen inhaltlichen Änderungen wird das Buch auf den ersten Blick unverändert aussehen. Ich bin überzeugt, dass die einheitliche Gestaltung der Kapitel dazu beiträgt, dass die Information rasch aufgefunden werden kann. Ebenfalls wie bei früheren Ausgaben möchten wir unseren Abonnentinnen und Abonnenten das Buch zu einem reduzierten Preis offerieren, sofern sie es innerhalb der Subskriptionsfrist bestellen. Da das Buch voraussichtlich im Frühsommer 2019 erscheinen soll, wird dieses Angebot schon bald bekanntgegeben werden.
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