Ototoxische Medikamente
- Autor(en): Etzel Gysling
- pharma-kritik-Jahrgang 39
, Nummer 11, PK1039
Redaktionsschluss: 14. April 2018
DOI: https://doi.org/10.37667/pk.2017.1039 - PDF-Download der Printversion dieser pharma-kritik Nummer
Unter dem Begriff Ototoxizität werden schädigende Auswirkungen auf das Gehör (die Cochlea) und auf den Gleichgewichtssinn (das Vestibulum) zusammengefasst. Cochleotoxische Substanzen führen zu Gehörsverlust und Tinnitus, vestibulotoxische zu Gleichgewichtsstörung und Schwindel. Gemäss aktuellen Übersichtsarbeiten ist der Zusammenhang zwischen Medikamenten und ototoxischen Auswirkungen aber oft nicht klar etabliert.(1,2) Medikamente, für die eine Ototoxizität gut dokumentiert ist, sind insbesondere die Aminoglykoside, die Platin-haltigen Chemotherapeutika und die Schleifendiuretika. Besonders für die beiden erstgenannten Gruppen, die irreversible Schäden verursachen können, sind auch Methoden zur Früherkennung und Überwachung bekannt.(1) Im Rahmen der vorliegenden Synopsis wird auf eine Beschreibung dieser Methoden verzichtet.
Aminoglykoside
In der Schweiz sind Amikacin (Amikin®) und Tobramycin (Obracin®) zur intravenösen Infusion verfügbar. Daneben sind von Gentamicin, Neomycin und Tobramycin verschiedene lokal anwendbare Präparate erhältlich. Eine ototoxische Wirkung der systemischen Anwendung ist sowohl für Amikacin als auch für Tobramycin (und die früher ebenfalls systemisch verwendeten Gentamicin, Kanamycin, Netilmicin und Streptomycin) gut dokumentiert. Aminoglykoside schädigen insbesondere die basalen äusseren Haarzellen sowie Neuronen im Spiralganglion. Ob diesbezüglich relevante Unterschiede zwischen den verschiedenen Aminoglykosiden bestehen, ist nicht gesichert. Aminoglykoside sind heute in einzelnen Ländern besonders auch in der Behandlung einer mehrfach-resistenten Tuberkulose (MDR-TB) bei HIV-Kranken von Bedeutung.
Die lokale Anwendung von Aminoglykosiden an den Augen, in der Nase oder auf der Haut ist bisher nicht als relevante Ursache von Ototoxizität identifiziert, jedoch auch nicht als völlig harmlos gesichert. Neomycin ist auch in einem Kombinationspräparat zur Anwendung im Ohr (Ohrentropfen, Panotile®) enthalten. In einer Kohortenstudie wurde ein ähnliches Neomycin-haltiges Präparat bei Kindern und Jugendlichen mit einem Trommelfelldefekt mit einem Präparat ohne Neomycin (aber mit einem Chinolon) verglichen. Längere Anwendung der Neomycin-haltigen Ohrentropfen war mit einem erhöhten Risiko einer Gehörsabnahme assoziiert.(3)
Platin-haltige Chemotherapeutika
Auch die Ototoxizität von Platin-haltigen Chemotherapeutika ist gut dokumentiert; Cisplatin (Generika) und Carboplatin (Paraplatin® u.a.) schädigen offenbar in erster Linie die äusseren Haarzellen, während Oxaliplatin (Eloxatin® u.a.) zu einer Degeneration des Hörnervs führt. In dieser Gruppe hat Cisplatin das stärkste ototoxische Potential. Gemäss einer grossen niederländischen Kohortenstudie haben annähernd die Hälfte der Personen, die als Kind wegen eines Malignoms mit Cisplatin behandelt wurden, einen Gehörschaden.(4) Eine Behandlung mit einem Platin-haltigen Medikament kann eine vermehrte Lärmempfindlichkeit verursachen, die auch langfristig bedeutsam ist.
Schleifendiuretika
Furosemid (Lasix® u.a.), Torasemid (Torem® u.a.) und die früher erhältlichen Bumetanid und Ethacrynsäure führen in der Cochlea zu Veränderungen im Epithel der Stria vascularis mit Konsequenzen für das endocochleare Potential und damit für das Hörvermögen.(5) Es handelt sich grundsätzlich um eine bilaterale, reversible Störung. Unklar ist allerdings, wieviel praktische Bedeutung dieser Veränderung zukommt. Gemäss der grossen Kohortenstudie bei amerikanischen Pflegefachfrauen («Nurses’ Health Study») fand sich über die Jahre 1994 bis 2012 bei mit Furosemid behandelten Frauen keine Assoziation mit dem Risiko eines Hörverlusts.(6) Immerhin ist zu beachten, dass Schleifendiuretika die schädigende Wirkung von Aminoglykosiden oder Platin-haltigen Mitteln verstärken können.
Schmerzmittel
Acetylsalicylsäure (Aspirin® u.a.) oder andere Salizylate führen in hohen Dosen – wie sie heute kaum mehr zum Einsatz gelangen – zu Hörverlust und Tinnitus. Dabei ist besonders der untere und der obere Frequenzbereich (unter 10 kHz bzw. über 20 kHz) betroffen.(7) Wenn es sich um eine längerfristige Verabreichung handelt, ist die Gehörschädigung nicht immer reversibel.
In den beiden grossen amerikanischen Kohortenstudien bei Frauen und Männern («Nurses’ Health Study» und «Health Professionals Follow-up Study») wurde nach einem Zusammenhang zwischen der Verwendung von gebräuchlichen Schmerzmitteln und Gehörsabnahme gesucht. Frauen, die an zwei oder mehr Tagen wöchentlich Ibuprofen (Brufen® u.a.) oder Paracetamol einnahmen, hatten gemäss den Daten von 1995 bis 2009 ein leicht erhöhtes Risiko eines Gehörverlusts. Dagegen fand sich keine Assoziation mit Acetylsalicylsäure.(8) Bei Männern bestand für eine ähnlich lange Zeitperiode eine Häufung der Gehörsabnahme, wenn sie an zwei oder mehr Tagen wöchentlich Acetylsalicylsäure, Paracetamol oder ein nicht-steroidales Antirheumatikum nahmen. Diese Assoziation war bei Männern unter 50 deutlicher ausgeprägt.(9)
Phosphodiesterase-5-Hemmer
Seit 2007 wird vor Gehörsverlust unter Sildenafil (Viagra® u.a.), Tadalafil (Cialis®, Adcirca®) und Vardenafil (Levitra®, Vivanza®) gewarnt.(10) Verschiedene Einzelfälle wurden publiziert. Aufgrund einer Querschnitts-Studie bei rund 11'500 Männern kann angenommen werden, dass bei Verwendung eines dieser Medikamente ein Gehörsverlust bei 3%, ohne diese Medikamente aber nur bei 1,4% eintritt. Die Assoziation mit Sildenafil war in dieser Studie signifikant.(11) In einer retrospektiven Kohortenstudie fand sich das Risiko eines Hörsturzes nach Verwendung eines PDE-5-Hemmers – gegenüber keiner Verwendung solcher Mittel – leicht (aber signfikant) erhöht.(12)
Weitere Medikamente
Für eine Reihe von Medikamenten liegen vorwiegend Berichte zu Einzelfällen von möglicher Ototoxizität vor, siehe Tabelle 1. In wievielen Fällen es sich um einen echten Zusammenhang handelt, ist schwierig zu beurteilen. Zu den Präparaten mit einem der verschiedenen Interferone, die in erster Linie bei Hepatitis C verwendet wurden, existieren mehrere Publikationen zu Einzelfällen und kleine Studien, in denen teils über reversible, teils über nicht-reversible Hörschäden und Tinnitus berichtet wird.
Kommentar
Ototoxische Effekte von Medikamenten sind in der hausärztlichen Praxis kein vordergründiges Problem. Beschwerden, die das Hörvermögen und den Gleichgewichtssinn betreffen, beruhen ja in der Regel nicht auf medikamentösen Ursachen. Es lohnt sich dennoch, dabei auch an die Möglichkeit einer medikamentös induzierten Störung zu denken.
Literatur
- 1) Lanvers-Kaminsky C et al. Clin Pharmacol Ther 2017; 101: 491-500
- 2) Campbell KCM, Le Prell CG. Drug Saf 2018 (Feb 6); online ahead of print https://doi.org/10.1007/s40264-017-0629-8
- 3) Winterstein AG et al. Otolaryngol Head Neck Surg 2013; 148: 277-83
- 4) Clemens E et al. Eur J Cancer 2016; 69 : 77-85
- 5) Ding D et al. J Otol 2016; 11: 145-56
- 6) Lin BM et al. Am J Med 2016; 129: 416-22
- 7) Sheppard A et al. Acta Otorhinolarnygol Ital 2014; 34: 79-93
- 8) Curhan SG et al. Am J Epidemiol 2012; 176: 544-54
- 9) Curhan SG et al. Am J Med 2010; 123: 231-7
- 10) Barreto MA, Bahmad F. Braz J Otorhinolaryngol 2013; 79: 727-33
- 11) McGwin G. Arch Otolaryngol Head Neck Surg 2010; 36: 488-92
- 12) Liu W et al. Pharmacoepidemiol Drug Saf 2018 (March 7); online ahead of print https://doi.org/10.1002/pds.4405
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