Komplexes regionales Schmerzsyndrom (Sudeck-Dystrophie)

In der Zeitschrift «Australian Prescriber» wurden die neuesten Erkenntnisse zum sogenannten komplexen regionalen Schmerzsyndrom (KRS, früher meistens als Sudeck-Dystrophie oder als Algodystrophie bezeichnet) in einer Übersicht dargestellt (1). Das Syndrom wurde vor Jahren auch in unserer Zeitschrift besprochen (2). Hier folgt eine Zusammenfassung des Textes aus Australien.

Das KRS ist eine schmerzhafte Erkrankung einer Extremität, die von pathologischen Veränderungen der Haut, des Knochens und der vegetativen, sensiblen und motorischen peripheren Nerven begleitet ist und oft zu Funktionseinschränkungen führt (3). Man kann einen KRS Typ I (Sudeck-Dystrophie) ohne Nervenschädigung von einem KRS Typ II (Kausalgie) mit einer Nervenschädigung in der Anamnese unterscheiden. In der Population einer Schmerzklinik leiden 2-5% der Erwachsenen und 20% der Kinder an einem KRS, wobei Frauen dreieinhalbmal mehr betroffen sind als Männer.

Pathophysiologie

Von den vielen Mechanismen, die zu einem KRS führen sollen, werden entzündliche Prozesse und Veränderungen im Gehirn sowie im sympathischen peripheren und spinalen Nervensystem diskutiert, die durch eine Immobilisierung verstärkt werden. Funktionelle Bildgebungen (z.B. Kernspintomographie) haben eine lokale Verminderung der kortikalen Aktivität, beispielsweise in der Handregion des motorischen Kortex gezeigt, die von entsprechenden neurologischen Symptomen begleitet werden können.

Klinik

Schmerzen von brennendem, scharfem und einschiessendem Charakter, die sich nicht an die Grenzen einzelner Dermatome halten, stehen oft im Vordergrund. Kleider, Bettwäsche, Wasser oder Wind können die Schmerzen auslösen oder verstärken. Man spricht hier auch von Allodynie. Schlafstörungen und eine Schonung der betroffenen Extremität sind häufig. Zu Beginn ist die Extremität meistens rot, überwärmt und Schweiss bedeckt und wird im Verlauf blau und atrophisch. Wechselnde Schwellungen von unterschiedlicher Ausprägung kommen in beiden Phasen vor. Motorisch stehen Steifigkeit und eine gestörte Koordination im Vordergrund.

Der Verlauf ist sehr unterschiedlich. Spontanheilungen innerhalb von Wochen oder Monaten kommen ebenso wie chronische Verläufe vor, die durch persistierende Schmerzen und Allodynie mit Steifigkeit charakterisiert sind. Endzustand kann eine glänzende, atrophische Extremität mit Kontrakturen sein. Kinder haben eine bessere Prognose und erholen sich häufiger vollständig als Erwachsene. Rückfälle sind möglich.

Diagnose

Die Diagnose erfolgt klinisch. Weitergehende Abklärungen sind nur zum Ausschluss anderer Diagnosen indiziert. Folgende Symptome und Zeichen sind charakteristisch:

Sensibel: Allodynie, Hyperalgesie, Hyperästhesie
Vasomotorisch: Veränderung der Hautfarbe und -temperatur
Sudomotorisch: Ödeme, Schwitzen
Motorisch: Schwäche, Tremor, Dystonie
Trophisch: Veränderungen von Haut, Haaren und Nägeln

Prävention

Die Prävention eines KRS ist sehr wichtig, da die Behandlung sehr schwierig sein kann (siehe unten). Eine gute Analgesie nach einer Verletzung und/oder einer chirurgischen Therapie scheint z.B. geeignet zu sein. Ein besonderes Profil, an welchem Personen mit einem erhöhten Risiko für die Entwicklung eines KRS identifiziert werden könnten, gibt es nicht.

Für die primäre und sekundäre Prävention eines KRS werden mehrere Strategien empfohlen:

-        Vitamin C (500-1000 mg täglich) für 50 Tage nach einer Radiusfraktur oder nach chirurgischen Eingriffen an den Extremitäten
-        Regionale oder epidurale Anästhesien oder Sympathikusblockade
-        Kortikosteroide (oral)
-        Nicht-steroidale Entzündungshemmer
-        Infusionen mit Clonidin (Catapresan®), Ketamin (z.B. Ketalar®) oder Lidocain (z.B. Lidocain Bichsel®)

Zurzeit gibt es keine klinischen Studien, die eine dieser präventiven Massnahmen genügend rechtfertigen würden.

Therapie

Da die diagnostischen Kriterien und die Verläufe des KRS uneinheitlich und die Fallzahlen relativ klein sind, gibt es nur eine sehr begrenzte Anzahl von Studien zur Behandlung. Diese basiert oft auf «Expertenmeinungen» oder auf Studien zur Behandlung von neuropathischen Schmerzen (4).

Physiotherapie

Physiotherapie und Ergotherapie sind von besonderer Bedeutung. Verschiedene aktive und passive Methoden (z.B. Hydrotherapie, Desensibilisierungsverfahren) können angewendet werden (5). Am wichtigsten ist, dass die Patientinnen und Patienten die betroffene Extremität bewegen, trainieren und in die alltäglichen Tätigkeiten reintegrieren. Auch «eingebildete» Bewegungen, die sich die Betroffenen nur vorstellen, ohne sie auszuführen («graded motor imagery»), können sich vorteilhaft auswirken.

Psychotherapie

Das KRS wird oft von depressiven Verstimmungen, allgemeiner Angst und Angst, die betroffene Extremität zu bewegen, begleitet (6). Informationen über die Pathophysiologie des Krankheitsbildes und die negativen Folgen eines Nichtgebrauchs der Extremität sind wichtige Elemente der Verhaltenstherapie des KRS und werden oft in die Physiotherapie eingebaut. In schwereren und chronifizierten Fällen ist eine Psychotherapie angezeigt, wobei verhaltenstherapeutische Methoden im Vordergrund stehen.

Medikamentöse Behandlung

Da für die meisten Therapien keine Evidenz bezüglich ihrer Wirkungen besteht, wird eine entsprechende Vielzahl von Medikamenten empfohlen. Die Schmerzbehandlung ist anspruchsvoll und schwierig und erfordert nicht selten den Einbezug von multidisziplinären Schmerzspezialisten.

Neben Paracetamol (Dafalgan® u.a.) – dessen Wirksamkeit hier nicht nachgewiesen ist – werden nicht-steroidale Entzündungshemmer und, besonders initial, Tramadol (Tramal® u.a.) verwendet. Stärker wirksame Opioide werden kontrovers beurteilt und sollten längerfristig nur in dritter Linie verschrieben werden, wenn sie offensichtlich die körperlichen Symptome vorteilhaft beeinflussen.

Orale Kortikosteroide – initial z.B. täglich 30 mg Prednison – können gegeben werden, entsprechende Evidenz fehlt jedoch ebenfalls. Manchmal wird ein Antidepressivum wie Amitriptylin (Saroten® retard) in Kombination mit einem Antikonvulsivum wie Gabapentin (Neurontin® u.a.) oder Pregabalin (Lyrica® u.a.) verschrieben. Weitere Antidepressiva und Antikonvulsiva – z.B. Topiramat (Topamax® u.a.) – sind ebenfalls versucht worden, mit variablem Erfolg. Auch Clonidin (Catapresan®) wird manchmal empfohlen. Gemäss einer anderen Übersichtsarbeit können Bisphosphonate (oral oder intravenös) Schmerzen und Schwellung signifikant bessern, während Calcitonin (Miacalcic®) in der Mehrzahl der Studien Placebo nicht überlegen war (7).

Bei Personen, die die oralen Medikamente nicht gut vertragen, können Lokalpräparate mit nicht-steroidalen Antirheumatika oder mit Dimethylsulfoxid (DMSO, z.B. in Dolobene®-Gel) appliziert werden.

In therapieresistenten Fällen sind ferner intravenöse Immunglobuline, Thalidomid oder Infliximab (Remicade®) verabreicht worden; die vorliegenden Daten genügen nicht für eine Beurteilung.

Invasive Methoden

Trotz begrenzter Evidenz werden ferner Blockaden des Sympathikus (Stellatumblockade oder lumbaler Sympathikusblock), epidurale Blocks oder sogar eine Sympathektomie empfohlen.

Ebenfalls kaum dokumentiert sind implantierbare Medikamentenpumpen oder Stimulatoren für die Arme oder Beine wurden in schweren und therapieresistenten Fällen.

Schlussfolgerungen

Das komplexe regionale Schmerzsyndrom ist ein ungewöhnliches neuropathisches Schmerzsyndrom, das eine multimodale physikalische und medikamentöse Therapie erfordert. Weitere Untersuchungen zur Pathophysiologie könnten eine gezieltere Behandlung ermöglichen. Nötig sind vor allem gute Studien für den Einsatz von Medikamenten und anderen Interventionen.

Zusammengefasst von Niklaus Löffel

Standpunkte und Meinungen

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Komplexes regionales Schmerzsyndrom (Sudeck-Dystrophie) (12. Februar 2016)
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