Hypertonie: wann und wie behandeln?

Im British Medical Journal (BMJ) sind im Zusammenhang mit revidierten Richtlinien des National Institute for Health and Clinical Excellence (NICE)(1) mehrere Texte erschienen, die aktuelle Fragen der Hypertonie-Behandlung diskutieren.(2-4) Diese Fragen sind in hohem Masse praxisrelevant; eindeutige Antworten fehlen aber zur Zeit. Hier das Wichtigste:

Diagnose nur aufgrund von Langzeitmessungen?

Seit einigen Jahren ist man sich der Problematik bewusst, dass in der Praxis (oder im Spital) gemessene Blutdruckwerte häufig deutlich höher sind als die mit einer Langzeit-Blutdruckmessung («24-Stunden-Blutdruckmessung») oder im Heim der Patientin oder des Patienten gewonnenen Werte. Das Phänomen wird als «white-coat hypertension» bezeichnet. Gemäss einer Meta-Analyse haben Personen, die lediglich einen Praxis-Hochdruck (aber normale Werte bei der Heimmessung) aufweisen, gegenüber solchen mit normalem Blutdruck kein erhöhtes kardiovaskuläres Risiko.(5) Das NICE rät nun, die Diagnose einer Hypertonie generell auf eine Langzeit-Blutdruckmessung (ausnahmsweise auf wiederholte Heimmessungen) zu stützen, wobei ein Durchschnitt von 135/85 mm Hg (tagsüber) als Grenzwert gelten soll. Medikamentös soll nur behandelt werden, wenn in der Langzeitmessung ein Durchschnittswert von mindestens 150/95 gefunden wird – es sei, es liegen zusätzliche Risikofaktoren (z.B. manifeste kardiovaskuläre Erkrankungen, Diabetes) vor. Daran wird unter anderem kritisiert, dass diese Grenzwerte ungenügend durch Daten gestützt seien. Tatsächlich ist zu bedenken, dass praktisch alle Resultate der grossen Studien zur Wirksamkeit von Antihypertensiva nicht auf Langzeit-Messungen, sondern auf Praxis-Blutdruckwerten beruhen. Unklar bleibt auch, ob das Ausmass der Variation der maximalen systolischen Werte das kardiovaskuläre Risiko beeinflusst; eine Nachuntersuchung mehrerer Studien weist darauf hin, dass Personen mit einer starken Variabilität der maximalen Werte ein  erhöhtes Schlaganfall-Risiko aufweisen.(6) Schliesslich ist festzuhalten, dass bisher Praxis-, Heim- und Langzeitmessungen nur in vergleichsweise wenigen Studien miteinander verglichen worden sind.(7) Hier besteht offensichtlicher Nachholbedarf.

Unterschiedliche Wirksamkeit der Antihypertensiva?

Das NICE empfiehlt jetzt, bei Personen unter 55 die medikamentöse Behandlung in der Regel mit einem ACE-Hemmer –  oder, bei Unverträglichkeit, mit einem Angiotensin-Rezeptorblocker (ARB) –  zu beginnen. Personen ab 55 Jahren sollen primär einen Kalziumantagonisten erhalten. Ist eine Steigerung der Medikation notwendig, sollen in allen Altersklassen ein ACE-Hemmer (bzw. ARB) und ein Kalziumantagonist kombiniert werden. Erst wenn dies auch nicht genügt, kommen in einem dritten Schritt Betablocker und/oder Diuretika zum Einsatz.(1) So kommen den Betablockern und den Diuretika nur noch die Rolle von Ausweichmitteln bzw. Drittstufen-Medikamenten zu. Für die Fachleute, die sich im BMJ äussern, ist die Evidenzbasis dieser Empfehlungen ungenügend. Sowohl die Altersabhängigkeit als auch die Wahl der Medikamentenklasse werden in Frage gestellt.  So gibt es verschiedene Untersuchungen, wonach die vier erwähnten Medikamentenklassen grosso modo gleichwertig wären. Scheinbare Unterschiede würden vorwiegend darauf beruhen, dass in mehreren Studien die Dosis der verschiedenen Medikamente nicht so austitriert worden ist, dass wirklich vergleichbare Blutdruckwerte erreicht wurden. Auch die Bedeutung der höheren Inzidenz eines Typ-2-Diabetes unter Betablockern oder Diuretika wird nach Meinung der Kritiker überschätzt.

Kommentar

Nach meiner Erfahrung verschafft die Blutdruckmessung im eigenen Heim den Patientinnen und Patienten meistens eine wertvolle Verbesserung ihrer Autonomie, so dass man durchaus mit gelegentlichen Exzessen oder Vernachlässigungen leben kann. Dagegen habe ich einige Mühe mit dem Konzept, bei offensichtlich erhöhten Blutdruckwerten in der Praxis routinemässig auch noch Langzeitmessungen durchführen zu müssen. Was die Wahl der Antihypertensiva anbelangt, dürfen die Empfehlungen des NICE wohl nicht zu rigide interpretiert werden. Subjektiv ist z.B. die Verträglichkeit kleiner Diuretikadosen oft besser als diejenige einer Kalziumantagonist-Monotherapie, die doch nicht selten zu Ödemen führt. Auch für den Einsatz von Betablockern hält das NICE z.B. bei Personen «mit erhöhtem Sympathikotonus» die Türe offen. Auf alle Fälle besteht kein Zweifel, dass die Hypertonie noch nicht «ausstudiert» ist.

Etzel Gysling

Standpunkte und Meinungen

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Hypertonie: wann und wie behandeln? (2. März 2012)
Copyright © 2024 Infomed-Verlags-AG
pharma-kritik, 33/No. 8/9
PK879
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