Dexmethylphenidat

Dexmethylphenidat (Focalin® XR) wird bei Aufmerksamkeitsdefizit und Hyperaktivitäts­störung (ADHS) empfohlen.

Chemie/Pharmakologie

Das Psychostimulans Methylphenidat (Ritalin® u.a.) – über das in unserer Zeitschrift wiederholt berichtet wurde (1,2) – ist ein Piperidin-Derivat mit zwei Chiralitätszentren. Es existieren deshalb vier Stereoisomere, eine D- und L-'Threo- sowie eine D- und L-'Erythro-Form. Die heute verwendeten Methylphenidat-Präparate enthalten keine Erythro-Isomere mehr (die weniger wirksam und schlechter verträglich sind als die Threo-Isomere), sondern stellen nur noch das Razemat dar aus D- und L-'Threo-Methylphenidat. Die L-'Threo-Form wird in der Leber grossenteils in die D-'Threo-Form, das sogenannte Dexmethylphenidat, übergeführt. Man nimmt deshalb an, dass die pharmakologische Wirkung vor allem durch Dexmethylphenidat zustandekommt – eine Vermutung, die durch Tierversuche bestätigt wurde.(3)

Die Wirkung von Dexmethylphenidat beruht vermutlich darauf, dass es sich in gewissen Hirnregionen an Dopamin- und Noradrenalin-Transporter bindet und die Wiederaufnahme dieser Neurotransmitter hemmt, was sich unter anderem in einer verbesserten Aufmerksamkeit und Impulskontrolle äussert.(4,5)

Pharmakokinetik

Das in der Schweiz als Focalin® XR angebotene Präparat, im Folgenden als Dexmethylphenidat XR bezeichnet, beruht auf der SODAS-Technologie («Spheroidal Oral Drug Absorption System»); die Kapseln enthalten die Wirksubstanz je zur Hälfte in normaler und in retardierter Form, womit eine zweimal tägliche Verabreichung imitiert werden kann. (Lanciert wurde Dexmethylphenidat ursprünglich in einer reinen nicht-retardierten Form, die in den USA seit knapp zehn Jahren auf dem Markt ist.)

Nach Einnahme von Dexmethylphenidat XR misst man zwei Plasmakonzentrations-Spitzen, eine erste nach 1,5 und eine zweite nach 6,5 Stunden. Die biologische Verfügbarkeit liegt bei knapp 25%. Dexmethylphenidat XR wird als bio­äquivalent betrachtet zur doppelten Menge des Methylphenidat-Präparates Ritalin® LA, das ebenfalls auf der SODAS-Technologie basiert. Der Abbau von Dexmethylphenidat erfolgt in der Leber über eine Karboxylesterase; daraus entsteht D-'Ritalinsäure, die praktisch keine pharmakologische Aktivität besitzt und mit dem Urin ausgeschieden wird. Die Halbwertszeit bewegt sich zwischen 2 und 4 Stunden. Die Pharmakokinetik von Dexmethylphenidat ist möglicherweise geschlechtsabhängig; so gibt es Daten, die bei Frauen eine um 45% höhere Spitzenkonzentration zeigten als bei Männern. Die Elimination bei eingeschränkter Leber- oder Nierenfunktion ist nicht erkundet.(3-5)

Klinische Studien

Dexmethylphenidat XR ist in verschiedenen Doppelblindstudien bei Personen mit ADHS klinisch beurteilt worden, wobei man alle relevanten Altersgruppen berücksichtigt hat. Das Mittel wurde jeweils einmal pro Tag am Morgen verabreicht.

Sechs Untersuchungen waren Kindern im Alter zwischen 6 und 12 Jahren gewidmet. Die grösste Studie umfasste 240 Knaben und Mädchen, die man auf vier Gruppen verteilte;  drei erhielten Dexmethylphenidat XR, die vierte Placebo. Die Dexmethylphenidat-Dosis betrug zu Beginn 5 mg/Tag und wurde je nach Gruppe auf die Zieldosis von 10, 20 oder 30 mg/Tag erhöht. Die Behandlung erstreckte sich über insgesamt fünf Wochen. Primärer Endpunkt war die Veränderung auf der sogenannten «Conners’ ADHD Scale for Teachers» (CADS-'T), einem Messinstrument, bei dem die Symptome durch Lehrer und Lehrerinnen gewichtet werden. Mit der niedrigsten Dexmethylphenidat-Dosis nahm die CADS-'T-Punktezahl von 37 auf 18 ab, mit der mittleren Dosis von 35 auf 18, mit der höchsten Dosis von 38 auf 16 und mit Placebo von 35 auf 30.6 Es fanden auch zwei Direktvergleiche mit razemischem Methylphenidat statt. Der eine zählte 84 Kinder, denen man im «Cross­over»-Verfahren – bei jedem Kind wurden in einwöchigen Zyklen alle fünf Behandlungsvarianten getestet – Dexmethylphenidat XR (20 und 30 mg/Tag), Methylphenidat (OROS-Präparat = Concerta®, 36 und 54 mg/Tag) und Placebo verabreichte. Die Evaluationen fanden in einem als Klassenzimmer fungierenden Versuchsraum statt. Den primären Endpunkt bildete der Vergleich zwischen den beiden niedrigeren Dosen von Dexmethylphenidat und Methylphenidat, gemessen zwei Stunden nach Einnahme der letzten Dosis anhand der sogenannten SKAMP-Skala (nach Swanson, Kotkin, Agler, M-'Flynn und Pelham). Dieser Parameter nahm mit 20 mg Dexmethylphenidat um 11 und mit 36 mg Methylphenidat um 6 Punkte ab. Einen ähnlichen Unterschied ergab der Vergleich der beiden höheren Dosen. Zu einem späteren Zeitpunkt des Dosierungsintervalls, ab der 8. Stunde nach Einnahme, kehrte sich das Bild, indem nun mit Methylphenidat die besseren Werte erreicht wurden. Beide Medikamente wirkten ausnahmslos besser als Placebo.(7) Die andere Studie, nach gleicher Art durchgeführt, lieferte ein ähnliches Bild.(8)

Daten zu Adoleszenten enthält folgende Studie: 97 Kinder und Jugendliche von 6 bis 17 Jahren (allerdings relativ wenige über 12) bekamen entweder Dexmethylphenidat XR oder Placebo. Die Dexmethylphenidat-Dosis betrug zu Beginn 5 mg/Tag und wurde je nach Ansprechen während fünf Wochen bis auf eine Maximaldosis von 30 mg/Tag erhöht; anschliessend wurde mit stabiler Dosis – im Durchschnitt 24 mg/Tag – noch zwei Wochen weiterbehandelt. Hier diente ebenfalls der CADS-'T-Wert als primärer Endpunkt. Nach sieben Wochen hatte er mit Dexmethylphenidat um 16 und mit Placebo um 6 Punkte abgenommen.(9)

Zur Behandlung bei Erwachsenen liegt eine Studie vor. 218 Personen im Alter von 18 bis 60 Jahren verabreichte man Dexmethylphenidat XR (20, 30 oder 40 mg/Tag) oder Placebo. Die Dexmethylphenidat-Dosis wurde von 10 mg/Tag in wöchentlichem Abstand auf die Zieldosis titriert. Im Laufe von 5 Wochen gingen die Symptome gemäss der von 0 bis 54 Punkten reichenden «DSM IV ADHD Rating Scale» unter Dexmethylphenidat mit der 20-'mg-Dosis von 37 auf 23 Punkte zurück, mit der 30-'mg-Dosis von 37 auf 24 Punkte, mit der 40-'mg-Dosis von 37 auf 20 Punkte und mit Placebo von 38 auf 30 Punkte.(10) 170 Teilnehmer und Teilnehmerinnen konnten für eine offen geführte, sechsmonatige Weiterbehandlung mit Dexmethylphenidat XR gewonnen werden, die vor allem zur Beurteilung der Verträglichkeit genutzt wurde. Von den 170 Personen brachen 67 diese zweite Studienphase vorzeitig ab, rund die Hälfte davon wegen Nebenwirkungen oder ungenügendem therapeutischem Effekt.(11)

Unerwünschte Wirkungen

Bei Dexmethylphenidat lässt sich von denselben Nebenwirkungen ausgehen wie bei razemischem Methylphenidat. Namentlich handelt es sich um Kopfschmerzen, Appetit- und Gewichtsabnahme, Übelkeit, Mundtrockenheit, Oberbauchschmerzen, Nasopharyngitis, Schwindel, Schlafstörungen, Angstzustände und Nervosität; auch Irritabilität, Aggressivität und Hautreaktionen werden angeführt.

Psychostimulantien führen – im Durchschnitt – zu einem leichten Blutdruck- und Pulsanstieg; bei einzelnen Individuen kann die Zunahme ausgeprägter ausfallen. Es sind auch plötzliche Todesfälle beschrieben, wobei zum Teil Herzkrankheiten vorbestanden hatten. Wohl als Folge des verminderten Appetits ist die Abnahme des Längenwachstums zu sehen, die man mit Psychostimulantien in Verbindung bringt.

Ferner weisen diese Substanzen ein Missbrauchspotential auf. Die Gefahr scheint indessen bei retardierten Präparaten geringer zu sein.(3,4)

Interaktionen

Dexmethylphenidat darf nicht zusammen mit MAO-Hemmern verabreicht werden, weil das Risiko einer hypertensiven Entgleisung erhöht würde. Abgeraten wird auch, wegen der gegensätzlichen Wirkung auf das dopaminerge System, von einer Kombination mit Neuroleptika.

Dosierung, Verabreichung, Kosten

Dexmethylphenidat (Focalin® XR) ist als Kapseln zu 5, 10, 15 und 20 mg erhältlich. Die empfohlene Anfangsdosis beträgt 5 mg/Tag bei Kindern und 10 mg/Tag bei Erwachsenen. Je nach Ansprechen kann die Dosis sowohl bei Kindern wie bei Erwachsenen auf maximal 20 mg/Tag erhöht werden. Personen, bei denen man von razemischem Methylphenidat auf Dexmethylphenidat wechselt, sollen die äquivalente (= halbe) Dosis (z.B. statt 20 mg nur 10 mg Dexmethylphenidat) bekommen. Wie für alle Psychostimulantien gilt für Dexmethylphenidat eine Liste von Kontraindikationen; dazu gehören Herzerkrankungen, Glaukom, motorische Tics, Prostatahyperplasie und verschiedene psychiatrische Komorbiditäten (schwere Depression, Suchtkrankheiten). Bei Kindern unter 6 Jahren sowie in der Schwangerschaft und Stillzeit ist das Medikament nicht geprüft.

Dexmethylphenidat unterliegt der Betäubungsmittelverodnung. Es ist kassenzulässig und kostet monatlich 38 bis 63 Franken – was etwas weniger ist als bei jenen Präparaten mit razemischem Methylphenidat, die ebenfalls für die einmal tägliche Verabreichung vorgesehen sind.

Kommentar

Vom klinischen Standpunkt lässt sich das in der Schweiz angebotene Dexmethylphenidat Präparat als gleichzusetzende Variante des Methylphenidat-Präparates Ritalin® LA betrachten – mit dem einzigen erkennbaren Vorteil, dass Dexmethylphenidat je nach Dosis 15 bis 25% billiger ist. Langwirkende Präparate rücken bei der medikamentösen Behandlung des Aufmerksamkeitsdefizits und der Hyperaktivitätsstörung zunehmend in den Vordergrund, weil man sich davon eine Verbesserung und Vereinfachung der Symptomkontrolle verspricht. Ob eine verlängerte Wirkstoffexposition durchwegs günstig ist, bleibt jedoch offen; so dürfte es bei gewissen Effekten der Psychostimulantien wie zum Beispiel der Appetithemmung oder der verstärkten Wachheit eher erwünscht sein, dass sie sich zeitlich nicht allzu stark in den Abend hinausdehnen.(3) Dass Behandlungen mit Methylphenidat und vergleichbaren Psychostimulantien nicht risikolos sind und vermutlich etwas gar freigiebig stattfinden, kann hier nur wiederholt werden.

Standpunkte und Meinungen

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Dexmethylphenidat (12. Dezember 2011)
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pharma-kritik, 33/No. 5
PK851
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