Erythropoietin

Synopsis

Rekombinantes humanes Erythropoietin (Epoetin, Eprex®) wird zur Behandlung der Anämie bei chronischer Niereninsuffizienz empfohlen.

Chemie/Pharmakologie

Erythropoietin ist ein Glykoprotein mit einer Molekularmasse von ungefähr 30’000 Dalton: ein Eiweiss aus 165 Aminosäuren bildet das Grundmolekül, daran angehängt sind Kohlenhydrate wie z.B. Sialinsäure. Das Hormon wird vorwiegend in den Nieren gebildet; die Leber, beim Fetus wichtigster Syntheseort, produziert nach der Geburt nurmehr geringe Mengen. Erythropoietin fördert die Proliferation und Differenzierung von Erythrozytenvorstufen. Die Sekretion steigt bei Sauerstoffmangel in den Geweben. Erythropoietin kann seit einigen Jahren gentechnologisch hergestellt werden. Dieses rekombinante humane Erythropoietin (im folgenden nur als Erythropoietin bezeichnet) ist strukturell dem natürlichen Hormon sehr ähnlich, hinsichtlich biologischer Aktivität mit ihm sogar identisch. Bislang weist nichts darauf hin, dass gegen das gentechnologische Produkt Antikörper gebildet würden.

Pharmakokinetik

Mit radioimmunologischen Methoden lässt sich Erythropoietin im Blut sehr exakt nachweisen; dabei wird aber biologisch inaktives Hormon mitgemessen. Die biologische Aktivität kann man nur mit zeitaufwendigeren und weniger empfindlichen biologischen Verfahren bestimmen. (1)
Wie alle Proteohormone kann Erythropoietin ausschliesslich parenteral verabreicht werden. Nach intravenöser Gabe liegt die Eliminationshalbwertszeit bei etwa 8 Stunden. (2) Unter einer Dauertherapie kann sie sich um beinahe ein Viertel verkürzen.(3) Nach subkutaner oder intraperitonealer Verabreichung ergaben sich folgende Mittelwerte (in Klammern die Daten nach intraperitonealer Gabe): Eine biologische Verfügbarkeit von 21,5% (2,9%), eine maximale Plasmakonzentration nach 18 (12) Stunden(2) sowie eine Plasmahalbwertszeit von 15 (11) Stunden. (4) Der Metabolismus ist noch nicht genau geklärt. In Tierversuchen wurde beobachtet, dass Erythropoietin- Moleküle nach der Abspaltung von Sialinsäure von der Leber und anderen Organen rasch aufgenommen werden.(5) Vermutlich wird Erythropoietin also vor allem auf nichtrenalem Weg eliminiert. Dass der Grad einer Niereninsuffizienz die Kinetik kaum verändert,(6) unterstützt diese Hypothese.

Klinische Studien

Über 1’500 Patienten mit chronischer Niereninsuffizienz sind bisher in klinischen Studien mit Erythropoietin behandelt worden. Meistens wurde das Hormon 3mal pro Woche, im Anschluss an eine Dialyse, intravenös verabreicht.
Von den ersten, zumeist ähnlich aufgebauten Studien sei die folgende im Detail beschrieben: 14 Patienten verabreichte man rund 9 Monate lang Erythropoietin. Die Dosis -- anfangs 3mal 24 E/kg/Woche -- wurde in einer ersten Phase alle 2 Wochen erhöht: man verdoppelte sie solange, bis der Hämoglobinspiegel um mindestens 20 g/l gestiegen war, und erhöhte sie danach in Schritten von 3mal 24 E/kg/Woche, bis der Hämoglobinwert zwischen 100 und 120 g/l lag. Mit einer durchschnittlichen Dosis von 897 E/kg/Woche konnte man bei 13 Patienten im Laufe von 12 bis 20 Wochen die Anämie korrigieren. In einer zweiten Phase wurde die Hämoglobinkonzentration mit einer reduzierten, individuell angepassten Dosis (im Mittel 322 E/kg/Woche) auf dem erreichten Niveau eingependelt. (7)
In einer Multizenterstudie erhielten 333 Patienten Erythropoietin (3mal 150 oder 300 E/kg/Woche). Über 97% der Patienten, die länger als 4 Wochen behandelt worden waren, sprachen auf die Therapie an (der Hämatokrit war bei ihnen mindestens um 0,06 über den Ausgangswert oder auf 0,35 gestiegen). Während der folgenden, mehrmonatigen Erhaltungstherapie wurde der Hämatokrit mit einer medianen Dosis von 75 E/kg/Woche stabilisiert, wobei sich die Dosen jedoch über einen weiten Bereich verteilten (von 12,5 bis 525 E/kg/Woche).(8) Eine weitere Publikation bezieht sich auf die gleichen Patienten und berichtet, dass sich unter Erythropoietin die Lebensqualität deutlich verbessert hat.(9) In einem Editorial wird allerdings kritisiert, dass man in einer so grossen Studie auf eine Kontrollgruppe verzichtet habe; die von der Autorengruppe angeführten ethischen Überlegungen seien nicht überzeugend.(10) In einer anderen Multizenterstudie wurden besonders die körperliche Leistungsfähigkeit und die Verbesserung der Lebensqualität untersucht. 118 Patienten bekamen doppelblind entweder Erythropoietin oder Placebo. Die mit Erythropoietin Behandelten unterteilte man in zwei Gruppen: in der ersten wurde eine Hämoglobinkonzentration zwischen 95 und 110 g/l angestrebt, in der zweiten ein Wert zwischen 115 und 130 g/l. Die Erythropoietin-Dosis betrug zu Beginn bei allen 3mal 100 E/kg/Woche und wurde dann gemäss dem Therapieziel wöchentlich angepasst; nach 6 Monaten erhielt die erste Gruppe durchschnittlich 204 E/kg/Woche, die zweite 248 E/kg/Woche. Gegenüber Placebo verminderte Erythropoietin signifikant Müdigkeit und Kraftlosigkeit, während in anderen für das Wohlbefinden massgebenden Bereichen (emotionalem Verhalten, sozialen Beziehungen u.a.) kein deutlicher Unterschied festzustellen war. Beim Belastungstest auf der Tretmühle erwiesen sich mit Erythropoietin Behandelte zwar als signifikant leistungsfähiger; doch bei der Bestimmung der Gehstrecke, die ein Patient in 6 Minuten zurückzulegen vermochte, fand man zwischen Erythropoietin und Placebo keine signifikante Differenz. In den beiden Erythropoietin-Gruppen ergaben sich in bezug auf alle durchgeführten Untersuchungen vergleichbare Resultate.(11) Bei Patienten, bei denen die Niereninsuffizienz noch nicht ins dialysepflichtige Stadium geschritten war, nahm im Vergleich zu Placebo der Hämatokrit unter Erythropoietin ebenfalls signifikant zu.(12)
Erythropoietin kann wahrscheinlich auch subkutan oder intraperitoneal verabreicht werden: Bei 9 Patienten, die Erythropoietin (2- oder 3mal 60 E/kg/Woche) subkutan erhalten hatten, stieg die durchschnittliche Hämoglobinkonzentration in 14 Wochen von 62 auf 94 g/l.(13) In zwei kleinen Untersuchungen reduzierte sich die Erhaltungsdosis um etwa die Hälfte, nachdem man von der intravenösen auf die subkutane Gabe umgestellt hatte.(14) Bei 5 Patienten unter Peritonealdialyse führten 3mal 100 E/kg/Woche, intraperitoneal verabfolgt, zu einem deutlichen Anstieg des Hämoglobinspiegels.(15)
Erythropoietin ist auch bereits bei anderen Krankheiten, die eine Anämie bewirken können (z.B. AIDS oder chronische Polyarthritis), sowie zur Vorbereitung einer autologen Bluttransfusion eingesetzt worden. Die Erfahrungen bei diesen Indikationen sind aber insgesamt noch gering.

Unerwünschte Wirkungen

Die Korrektur einer Anämie bei niereninsuffizienten Patienten ist nicht ganz unproblematisch, da die Viskosität des Blutes steigt und die Austauschprozesse bei der Dialyse vermutlich auch von der Höhe des Hämatokrits abhängen. (16) Die unerwünschten Wirkungen von Erythropoietin lassen sich wohl grossenteils auf den Anstieg des Hämatokrits zurückführen.
Erythropoietin erhöht bei rund 30% der Patienten den Blutdruck (wahrscheinlich um so eher, je rascher der Hämatokrit zunimmt). In vielen Studien musste die antihypertensive Therapie verstärkt werden, auch Fälle von hypertensiven Enzephalopathien sind beschrieben. Etliche Male traten Thrombosen der arteriovenösen Fisteln auf oder musste bei der Dialyse Heparin höher dosiert werden. (Ursache ist möglicherweise der in einigen Studien festgestellte Anstieg der Thrombozytenzahl.) Durch die Stimulierung der Erythropoiese wird vermehrt Eisen umgesetzt, was zu einem Eisenmangel führen kann, bei einer -- z.B. transfusionsbedingten -- Eisenüberladung hingegen einen positiven Nebeneffekt darstellt. Patienten mit einer niedrigen Ferritinkonzentration wird geraten, während der Erythropoietin-Behandlung Eisen einzunehmen. Als weitere Nebenwirkungen beobachtete man grippeartige Symptome nach der Injektion und eine Erhöhung des Kaliumspiegels. In seltenen Fällen sind unter einer Therapie mit Erythropoietin Konvulsionen aufgetreten.
Manchmal spricht ein Patient nicht auf Erythropoietin an; mögliche Ursachen (abgesehen vom Eisenmangel) sind Infektionen, eine Aluminiumintoxikation sowie eine Osteitis fibrosa infolge eines sekundären Hyperparathyroidismus.

Dosierung, Verabreichung, Kosten

Erythropoietin (Eprex®) wird in 1-ml-Ampullen zu 2’000, 4’000 und 10’000 E angeboten. Bisher ist allein die intravenöse Verabreichung umfassend getestet worden. Liegt der Ausgangswert der Hämoglobinkonzentration über 80 g/l, sollte eine Therapie mit Erythropoietin nur angefangen werden, wenn die betreffende Person über Anämiesymptome klagt.(17) Der Effekt von Erythropoietin ist dosisabhängig, weniger als 3mal 15 E/kg/Woche sind unwirksam. (18) Heute wird empfohlen, höchstens 3mal 200 E/kg/Woche zu verabreichen. Um das Risiko eines Blutdruckanstiegs oder einer Thrombose zu reduzieren, sollte Erythropoietin so dosiert werden, dass sich die Anämie nur langsam korrigiert. Ein Anstieg des Hämoglobinspiegels von 10 g/l/Monat scheint vernünftig; als Ziel wird ein Wert zwischen 100 und 120 g/l formuliert.(17) Die Langzeittherapie wird mit einer individuellen Erhaltungsdosis fortgeführt. Zur Anwendung während Schwangerschaft und Stillzeit liegen keine Untersuchungen vor. Der Preis für 1’000 E Erythropoietin beträgt knapp 21 Franken; mit einer -- niedrigen -- Wochendosis von 100 E/kg ergibt dies bei einer 70 kg schweren Person etwa 580 Franken pro Monat. Dank einer Sonderregelung werden diese Kosten durch die Krankenkassen vergütet.

Kommentar

Die Wirksamkeit von Erythropoietin bei der renal bedingten Anämie ist gut dokumentiert; bisherige Therapien (Erythrozytentransfusionen, Gabe von Androgenen) werden zusehends verdrängt werden. Einiges ist allerdings noch offen: Klare, einheitliche Dosisempfehlungen fehlen; es wäre wichtig zu wissen, wie sich eine Erhöhung des Hämatokrits bei einer chronischen Niereninsuffizienz auf die Dauer auswirkt oder welche Hämoglobinwerte anzustreben sind, damit die Patienten auch langfristig von der Therapie profitieren. Angesichts der erheblichen Kosten sollte man sich vergegenwärtigen, dass sich das subjektive Befinden offenbar weniger frappant verbessert als die messbaren Parameter. Nur am Rande sei erwähnt, dass zu befürchten ist, Erythropoietin werde als (kaum nachweisbares) Dopingmittel Eingang in die Sportwelt finden.

Literatur

  1. 1) Kurtz A, Eckardt K-U. Nephron 1989; 51 (Suppl 1): 11-4
  2. 2) Macdougall IC et al. Lancet 1989; 1: 425-7
  3. 3) Neumayer HH et al. Contrib Nephrol 1989; 76: 131-41
  4. 4) Kampf D et al. Contrib Nephrol 1989; 76: 106-10
  5. 5) Faulds D, Sorkin EM. Drugs 1989; 38: 863-99
  6. 6) Kindler J et al. Nephrol Dial Transplant 1989; 4: 345-9
  7. 7) Casati S et al. Br Med J 1987; 295: 1017-20
  8. 8) Eschbach JW et al. Ann Intern Med 1989; 111: 992-1000
  9. 9) Evans RW et al. JAMA 1990; 263: 825-30
  10. 10) Chalmers TC. JAMA 1990; 263: 865
  11. 11) Canadian Erythropoietin Study Group. Br Med J 1990; 300: 573-8
  12. 12) Lim VS et al. Ann Intern Med 1989; 110: 108-14
  13. 13) Macdougall IC et al. Contrib Nephrol 1989; 76: 219-26
  14. 14) Bommer J et al. Lancet 1988; 2: 406
  15. 15) Frenken LAM et al. Lancet 1988; 2: 1495
  16. 16) Shinaberger JH et al. ASAIO Trans 1988; 34: 179-84
  17. 17) Macdougall IC et al. Br Med J 1990; 300: 655-9
  18. 18) Eschbach JW et al. N Engl J Med 1987; 316: 73-8

Standpunkte und Meinungen

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Erythropoietin (14. März 1990)
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