Amerika: Hast du es besser?

ceterum censeo

Das Vergleichen ist eine wichtige Aufgabe von pharmakritik: positive und negative Eigenschaften von Medikamenten müssen gegeneinander abgewogen werden, Arzneimittel müssen mit nicht-medikamentösen Behandlungen verglichen werden, schliesslich müssen auch die Kosten verschiedener Verfahren in die Waagschale geworfen werden. Nützlich sind aber auch internationale Vergleiche. Meine Kontakte mit Kolleginnen und Kollegen der «International Society of Drug Bulletins» erlauben mir, viel über Arzneimittel in anderen Ländern zu lernen. Bereits ein Blick in den Inserateteil der nordamerikanischen Fachliteratur oder ein Besuch in einer kanadischen Apotheke bringt Unterschiede zu der Schweiz zutage, die man kaum vermutet hätte.
Natürlich ist mir bewusst, wie schlecht es um die medizinische Versorgung eines beträchtlichen Teils der Bevölkerung in den USA bestellt ist. Die Situation ist deshalb so schlimm, weil trotz «Medicaid» nur die Minderheit der amerikanischen Armen versichert ist. So muss man wünschen, dass bald eine universelle Versicherung die bisher gemiedene Solidarität herstellt. Dass dies möglich ist, zeigt übrigens das Beispiel von Kanada, wo eine solche Versicherung schon längst existiert. Überheblichkeit unsererseits ist jedoch keineswegs am Platz. Gerade in Hinsicht auf die Medikamente ist in Nordamerika einiges besser als bei uns.

Noch vor rund 15 Jahren war es üblich, vom «therapeutischen Rückstand» der USA zu sprechen. Tatsächlich konnte damals zu Recht beklagt werden, wichtige neue Medikamente würden in den USA gegenüber Europa verspätet eingeführt. Heute ist die Sachlage anders: Sicher bestehen nach wie vor nationale Unterschiede in der Zulassung neuer Mittel. Es ist aber durchaus nicht so, dass in Kanada oder in den USA therapeutisch bedeutsame Substanzen fehlen, die hier erhältlich wären. Man mag über die neuen Lipidsenker vom Typus der HMG-CoA-Reduktase-Hemmer (Lovastatin, Pravastatin = Selipran®, Simvastatin = Zocor®) denken wie man will -- in den USA waren sie jedenfalls früher als in der Schweiz erhältlich. Ähnliches gilt für andere Arzneimittel oder neue Formen bewährter Mittel. So ist z.B. auch das beliebte Quellmittel Metamucil ® in Nordamerika längst in einer zuckerfreien Version erhältlich, während bei uns noch immer nur die zuckerhaltigen Varianten käuflich sind.

Von grösserer Bedeutung scheint mir aber die Tatsache, dass in Kanada und in den USA eine eindeutig umfassendere Information zu den Arzneimitteln angeboten wird. Liest man Pharma-Inserate in amerikanischen Zeitschriften (nicht etwa nur den kleingedruckten Teil!), entdeckt man bald einmal, dass uns in der Schweiz einiges vorenthalten wird. Hier ein paar Beispiele:
Dass schwangere Frauen keine ACE-Hemmer erhalten sollten, wird in der Schweiz recht nebensächlich behandelt. So steht zum Beispiel im offiziellen Text zu Tensobon® (Captopril) folgende unverbindliche Aussage: «Tensobon sollte in der Schwangerschaft nur verwendet werden, wenn der erwartete Nutzen die potentielle Gefährdung des Fetus rechtfertigt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich Captopril beim Kaninchen bei einer Dosierung, die der 20fachen Dosis beim Menschen entspricht, als fetotoxisch gezeigt hat». In der amerikanischen Fachliteratur dagegen sind dieses Jahr wiederholt ganzseitige Inserate erschienen, in denen die Hersteller von ACE-Hemmern gemeinsam auf die Gefahr der ACE-Hemmer für das ungeborene Kind hinweisen.
Ceftriaxon (Rocephin®) wird diesseits und jenseits des Atlantiks als eines der wichtigsten Cephalosporine angesehen. In Nordamerika hat die Ärzteschaft Anrecht auf genauere Angaben zu den unerwünschten Wirkungen. Während unser Arzneimittel-Kompendium z.B. von gastrointestinalen Beschwerden in «etwa 2% der Fälle» spricht, steht in jedem amerikanischen Rocephin-Inserat, dass bei 2,7% der Behandelten Durchfälle aufgetreten sind, daneben in weniger als 1% Brechreiz/Erbrechen und Geschmacksstörungen. Auch der Hinweis auf die Möglichkeit einer pseudomembranösen Kolitis fehlt nicht. Wer meint, so genaue Angaben seien überflüssig, hat sich wohl noch nie mit dem Problem einer pseudomembranösen Kolitis konfrontiert gesehen. Korrigendum!
Einen auffälligen Unterschied fand ich auch in bezug auf Gemfibrozil (Gevilon®). In der Schweiz kann dieses Medikament angewendet werden «bei Patienten mit Hypercholesterinämie, Hypertriglyzeridämie und kombinierten Formen, entsprechend Frederickson Typ IIa, IIb und IV». Eigenartigerweise eignet sich das Präparat in den USA nur zur Behandlung von Personen mit einer Dyslipidämie vom Typ IIb, d.h. für Individuen mit der Trias «niedriges HDLCholesterin, hohes LDL-Cholesterin und hohe Triglyzeride », und zwar nur für solche ohne koronare Herzkrankheit! Die Erklärung für diese massive Einschränkung der Indikation findet sich im Kleingedruckten, wo unter anderem auf die erhöhte Mortalität der mit Gemfibrozil Behandelten in einer Sekundärpräventions-Studie hingewiesen wird.
In der Schweiz ist es zulässig, dass Hersteller von Antirheumatika suggerieren, ihr Medikament könne gegeben werden, «damit der Knorpel länger lebt» -- dies ist jedenfalls in einem Inserat für Azapropazon (Prolixan®) zu lesen. In den USA musste dagegen auf Verlangen der Arzneimittelbehörde eine entsprechende Behauptung für Naproxen (Naprosyn® u.a.) in ganzseitigen Inseraten korrigiert werden. Darin heisst es ausdrücklich: «Es ist nicht nachgewiesen, dass Naprosyn degenerative Gelenkveränderungen aufhalten kann»!

Die Ärzteschaft in Nordamerika profitiert auch von der Tatsache, dass englischsprachigen Veröffentlichungen ein vergleichsweise riesiger Markt offensteht. Viele wichtige Publikationen über Medikamente erscheinen zuerst und manchmal sogar ausschliesslich in englischer Sprache. (So überrascht auch nicht, dass der erste unabhängige «Newsletter» über Medikamente, der «Medical Letter on Drugs and Therapeutics», in den USA herausgekommen ist.) Der Vorteil der englischen Sprache wirkt sich sodann bei der «computerfähigen» Information aus. Das amerikanische Analogon unseres Arzneimittel-Kompendiums, die «Physician’s Desk Reference», ist schon seit Jahren in einer elektronischen Form (als CD-ROM) erhältlich.

Nicht nur Ärztinnen und Ärzte, sondern alle Leute werden in Nordamerika besser über Medikamente informiert. Dafür sind zum Teil Konsumentenorganisationen (wie die «Consumers Union» in den USA), zum Teil aber auch die Behörden verantwortlich. Ein Beispiel: Nachdem feststand, dass Terfenadin (Teldane®) mit Ketoconazol (Nizoral ®) oder Makrolidantibiotika zusammen zu gefährlichen Herzrhythmusstörungen führen kann, wurde das kanadische Publikum via Inserate in der Tagespresse auf die Gefahr aufmerksam gemacht. Terfenadin kann aber nicht nur in Kanada, sondern auch in der Schweiz ohne ärztliches Rezept gekauft werden. In der Schweiz war offenbar keine entsprechende Aufklärung notwendig.

Wer nun glaubt, dass diese Vorteile mit übersetzten Arzneimittelpreisen erkauft werden müssten, täuscht sich gewaltig. Ich habe vor kurzem einen Gang durch eine kanadische Quartier-Apotheke gemacht und dabei erstaunlich günstige Preise festgestellt. Ganz bewusst habe ich nur auf rezeptfrei erhältliche Originalpräparate geachtet und Nachahmer unberücksichtigt gelassen. Natürlich sind Packungsgrössen und zum Teil auch Dosierungen mit den schweizerischen nicht ganz identisch. Auf gleiche Mengen umgerechnet zahlen aber Kanadierinnen und Kanadier durchwegs weniger als wir in der Schweiz. Hier ein paar Beispiele: Zehn Brausetabletten mit 1 g Vitamin C (Redoxon ®, Original der Firma Roche) kosten in der Schweiz Fr. 6.20, in Kanada umgerechnet nur Fr. 3.30. Zwanzig 200 mg-Ibuprofen-Tabletten der Firma Upjohn (Motrin®), neuerdings in der Schweiz zu Fr. 6.- erhältlich, kosten in Kanada Fr. 3.60. Eine Originalpackung mit 200 ml flüssigem Gaviscon® kostet in der Schweiz Fr. 10.20, die gleiche Menge ist in Kanada zu Fr. 6.- zu haben. Dazu ist noch zu bemerken, dass ich für die Umrechnung den Wert des kanadischen Dollars höher eingesetzt habe (zu Fr. 1.50), als er seit vielen Monaten gehandelt wird. In Tat und Wahrheit sind die kanadischen Preise also noch günstiger! Rezeptpflichtige Medikamente sind ebenfalls deutlich billiger als in der Schweiz, wobei deren Preise hier wie dort stärker auch staatlichen preisdämpfenden Einflüssen ausgesetzt sind.

Ja, die Antwort ist eindeutig: was Arzneimittel-Information und -Preise anbelangt, hat man es in Kanada und in den USA besser.

Etzel Gysling

Standpunkte und Meinungen

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Amerika: Hast du es besser? (14. Juni 1992)
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pharma-kritik, 14/No. 11
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