Botulinumtoxin
- Autor(en): Urspeter Masche
- Reviewer: Peter Fuhr, Andreas Horst, Alain Kaelin, Hanspeter Killer, René Rüdlinger , Berthold Rzany, Brigitte Schurch
- pharma-kritik-Jahrgang 29
, Nummer 1, PK41
Redaktionsschluss: 9. Juli 2007
DOI: https://doi.org/10.37667/pk.2007.41 - PDF-Download der Printversion dieser pharma-kritik Nummer
Übersicht
Clostridium botulinum ist ein anaerobes grampositives Bakterium mit weltweiter Verbreitung, dessen Sporen im Boden und Wasser vorkommen und auch Hitze bis 100°C überstehen können. Es produziert Botulinumtoxin, von dem sieben verschiedene Serotypen bekannt sind (A bis G) und das – mit einer letalen Dosis in der Grössenordnung von 10-9 g/kg – den Platz als eines der stärksten Gifte überhaupt beansprucht. Es ist Ursache des Botulismus, der klassischerweise nach Einnahme von Nahrungsmitteln auftritt, die nicht korrekt konserviert worden sind («botulus» heisst lateinisch Wurst); er kann sich aber auch ausbilden, wenn das Toxin als Aerosol inhaliert wird oder Clostridien in Wunden gelangen, wo anaerobe Bedingungen herrschen. Der Botulismus zeichnet sich durch eine Vielfalt vor allem neurologischer und gastrointestinaler Symptome aus. Die Hauptmanifestation ist eine symmetrische, schlaffe Lähmung, die sich vom Kopf her (mit Hirnnervenausfällen) auf Arme und Beine ausbreitet. Frühsymptome, über welche die meisten Betroffenen klagen, sind ophthalmologische Beschwerden wie verschwommenes Sehen, Doppelbilder und Lidptose.
Botulinumtoxin ist ein hitzelabiles Makromolekül, bestehend aus einem Neurotoxin und weiteren, nicht-toxischen Proteinen, die zum Teil hämagglutinierend wirken und die den Komplex schützen und stabilisieren. Beim Neurotoxin handelt es sich um zwei unterschiedlich lange Polypeptide, die über eine Disulfidbrücke verbunden sind. Die lange Kette ist verantwortlich für die Rezeptorbindung an den Nervenendigungen, für die Aufnahme in die Neuronen und für die Selektivität der Wirkung auf periphere motorische und vegetative Nervenfasern.
Dort entfaltet die kurze Kette die neurotoxischen Wirkungen, indem sie als zinkhaltige Metalloprotease die Spaltung von Proteinen einleitet, die für die Freisetzung des Neurotransmitters Acetylcholin benötigt werden (nicht beeinflusst werden die Synthese oder die Speicherung von Acetylcholin). Dadurch kommt es zu einer Blockade der cholinergen Übertragung an den präganglionären und den parasympathischen postganglionären Endigungen sowie an der motorischen Endplatte. Alle 7 Serotypen hemmen die Acetylcholinfreisetzung; sie haben jedoch nicht alle dieselben intrazellulären Zielproteine, weshalb sie sich im genauen Wirkungsmechanismus und ihrer Potenz etwas unterscheiden. Botulinumtoxin hemmt möglicherweise auch die Freisetzung anderer Neurotransmitter; diskutiert wird insbesondere eine Beeinflussung nozizeptiver Neuropeptide (Substanz P u.a.). Der Effekt von Botulinumtoxin hält wochen- bis monatelang an. Die lähmende Wirkung tritt je nach Muskelgrösse innerhalb von 2 bis 14 Tagen ein, erreicht nach wenigen Wochen ein Maximum und klingt nach 2 bis 3 Monaten ab, dadurch eingeleitet, dass sich neue Synapsen bilden («sprouting») und die alten sich erholen.(1,2)
Seit etwa 30 Jahren wird Botulinumtoxin als medizinische Substanz verwendet. Zunächst bei wenigen ophthalmologischen und neurologischen Leiden eingesetzt, erfreut es sich unterdessen infolge der kosmetischen Anwendungen grösster Popularität. Verwendet wird Botulinumtoxin in Form der beiden Serotypen A und B, wobei in der Schweiz zur Zeit nur Präparate mit dem Serotyp A offiziell zugelassen sind: Das eine Präparat wird als Botox® für therapeutische und als Vistabel ® für kosmetische Zwecke angeboten, das andere unter dem Namen Dysport® für therapeutische Anwendungen.
Die Dosis von Botulinumtoxin wird in Einheiten biologischer Aktivität (E) angegeben; 1 E entspricht der Menge, die in einem standardisierten Tiermodell 50% der Tiere tötet (LD50). Da die Bestimmung im Tierversuch bei den einzelnen Präparaten verschieden durchgeführt wird, kann die biologische Aktivität nicht eins zu eins gegenübergestellt werden. Botox® bzw. Vistabel® werden als zwischen 3- bis 5-mal potenter eingestuft als Dysport® (1 E Botox®/Vistabel® ˜ 3-5 E Dysport®).2 Die Dosierung von Botulinumtoxin bewegt sich – je nach Indikation und Präparat – zwischen ein paar wenigen und mehreren hundert Einheiten. Eine Durchstichflasche enthält bei Botox® 100 E (zu CHF 429.–), bei Vistabel® ebenfalls 100 E (zu CHF 358.40) und bei Dysport® 500 E (zu CHF 540.95). Botulinumtoxin ist kassenzulässig für die meisten therapeutischen (nicht aber kosmetischen) Indikationen, für die eine offizielle Zulassung besteht.
Klinische Anwendung
Die Anzahl der Krankheitsbilder, bei denen eine Behandlung mit Botulinumtoxin durchgeführt oder in Erwägung gezogen wird, wächst ständig (die Wirkungsweise von Botulinumtoxin setzt voraus, dass es sich um ein lokalisiertes, auf eine Körperregion beschränktes Problem handelt). Die wichtigsten Gruppen bilden Erkrankungen, bei denen eine abnorme oder verstärkte Aktivität von Skelettmuskeln, von glatten Muskeln im Gastrointestinal- und Urogenitaltrakt oder von exokrinen Drüsen besteht.
Die Behandlung mit Botulinumtoxin besteht aus lokalen Injektionen. Am Ort, wo man Botulinumtoxin spritzt, wird die Acetylcholinfreisetzung der motorischen und autonomen Neuronen gehemmt. Bei intramuskulärer Anwendung führt man die Injektion oft unter elektromyographischer oder sonographischer Kontrolle durch, um die Zielmuskulatur exakt zu treffen; denn für den Therapieerfolg ist die richtige Auswahl der Injektionsorte ausschlaggebend. Wie erwähnt, ist die Wirkung von Botulinumtoxin vorübergehend, so dass wiederholte Anwendungen nötig sind.
Im Folgenden werden einzelne Indikationen von Botulinumtoxin näher besprochen. Die Auswahl beschränkt sich auf diejenigen Indikationen, für die Botulinumtoxin zugelassen ist (vgl. Tabelle 1) oder zu denen umfangreichere klinische Studien vorliegen. Generell gibt es nicht viele kontrollierte Daten zur Anwendung von Botulinumtoxin; dies hat damit zu tun, dass Botulinumtoxin für etliche Indikationen als einzige oder eindeutig wirksamste Behandlung angesehen wird, was die Bildung von Kontrollgruppen erschwert. Zudem war in den meisten Studien die Beobachtungszeit relativ kurz, indem die Wirkung von lediglich einer oder zwei Injektionsbehandlungen verfolgt wurde.
Fokale Dystonien
Dystonien sind unwillkürliche, anhaltende Muskelkontraktionen, die zu abnormen Bewegungen und verzerrenden Körperhaltungen führen. Mehrheitlich treten sie fokal auf, äussern sich also nur an einer Körperregion, zum Beispiel im Bereich des Kopf-, Hals- oder Schultermuskulatur.
Bei Blepharospasmus – der häufigsten fokalen Dystonie, bestehend aus unwillkürlichen Kontraktionen beider Mm. orbiculares oculi – gilt Botulinumtoxin mangels Alternativen und wegen seiner offensichtlichen Wirksamkeit als Mittel der Wahl. In Fallserien und offen geführten Studien, die ein paar tausend Personen umfassten, liess sich mit Botulinumtoxin bei rund 90% der Behandelten eine 2 bis 3½ Monate dauernde Besserung erreichen.(3)
Die zweithäufigste Form der fokalen Dystonien, die zervikale Dystonie (Torticollis spasmodicus), ist charakterisiert durch abnorme Kopfhaltungen, oft verbunden mit Schmerzen der Hals- und Schultermuskulatur. Eine Metaanalyse von 1- 3 placebokontrollierten Studien ergab, dass eine Botulinumtoxin- Injektion sowohl den objektiven Zustand (Ausmass der Kopfabweichung, Schulterhochstand) als auch die Schmerzen signifikant zu beeinflussen vermag.(4)In einem Doppelblindvergleich mit Trihexyphenidyl (Artane®, in der Schweiz nicht mehr im Handel) nützte Botulinumtoxin besser und rief weniger Nebenwirkungen hervor als dieses Anticholinergikum.(5)
Auch beim sogenannten Schreibkrampf («writer’s cramp») oder der spasmodischen Dysphonie (laryngeale Dystonie) beobachtete man in kleinen placebokontrollierten Studien eine überlegene Wirkung von Botulinumtoxin.(6,7)
Andere Hyperkinesien
Bei hemifazialem Spasmus treten einseitige Muskelzuckungen im Versorgungsgebiet des N. facialis auf (Mund- und Augenregion). Botulinumtoxin wird auch hier als Therapie der Wahl bezeichnet (gegenüber der chirurgischen Dekompression des N. facialis), wobei bei der postparalytischen Form besondere Vorsicht geboten ist. Ähnlich wie beim Blepharospasmus verfügt man über einen grossen Umfang an Daten, die jedoch praktisch alle aus unkontrollierten Studien stammen. In diesen
Untersuchungen berichteten mindestens 75% der Behandelten über eine gute bis sehr gute Besserung. Die Wirkdauer einer Injektion lag bei etwa 2½ bis 4 Monaten. In einzelnen Fällen konnte die Therapie mit Botulinumtoxin über einen Verlauf von 11 Jahren beobachtet werden.(3)
Auch zur Linderung eines Tremors, zum Beispiel der Hand, kann Botulinumtoxin manchmal helfen.(8)
Spastische Erkrankungen
In mehreren placebokontrollierten Studien prüfte man Botulinumtoxin bei Erwachsenen, die nach einem Schlaganfall, wegen multipler Sklerose oder nach einem Schädel-Hirn-Trauma an Spastizität litten. In allen konnte mit Botulinumtoxin, in die spastische Muskulatur gespritzt, eine signifikante Reduktion des Muskeltonus erzielt werden. Zum Teil liess sich auch der Grad der Behinderung vermindern, indem die Körperpflege oder das Anziehen erleichtert wurden.9 Dabei ist zu berücksichtigen, dass vor allem die passive Funktion verbessert wird.
Bei Zerebralparese, häufigster Ursache einer Spastizität bei Kindern, wird Botulinumtoxin ebenfalls eingesetzt. Injektionen in die Wadenmuskulatur führen zum Beispiel bei Spitzfussstellung zu einer ähnlichen Verbesserung des Gangbildes wie die Verwendung von Schienen.(10)
Selbstverständlich sollte Botulinumtoxin bei spastischen Erkrankungen in einer Reihe mit anderen Massnahmen (Physiotherapie, systemisch wirkende Medikamente) stehen.
Strabismus
Bei Strabismus fand die erste klinische Anwendung von Botulinumtoxin statt. Mit einer Botulinumtoxin-Injektion in die äusseren Augenmuskeln kann die Abweichung der Sehachsen bei verschiedenen Schielformen um etwa 50% bis 80% korrigiert werden.11 Kontrollierte Vergleiche mit Strabismuschirurgischen Eingriffen liegen aber nicht vor. Botulinumtoxin kommt am ehesten in Frage bei Strabismus mit geringer Achsenabweichung (wobei bei Innen- die besseren Erfolgschancen bestehen als bei Aussenschielen), bei paralytischem Strabismus (vor allem Abduzensparese), bei aktiver endokriner Orbitopathie, für eine postoperative Nachkorrektur oder wenn eine Operation ausser Betracht fällt.(12)
Krankheiten des autonomen Nervensystems
Übermässiges Schwitzen unter den Achseln, an Händen oder an Füssen – das auf einer hypothalamischen Dysfunktion beruhen kann – lässt sich mit intradermalen Botulinumtoxin-Injektionen behandeln. In zwei Doppelblindstudien wurde bei Personen mit axillärer Hyperhidrose gezeigt, dass Botulinumtoxin in einem viel höheren Prozentsatz zu einer mindestens 50%-igen Abnahme der Schweissproduktion führt als Placebo.(13),(14) Die mediane Wirkdauer betrug bei Botulinumtoxin rund 200 Tage, was die Erfahrung bestätigte, dass die Wirkung bei Hyperhidrose (bzw. bei Störungen des autonomen Nervensystems) deutlich länger sein kann als bei anderen Erkrankungen.
Bei Sialorrhoe lässt sich der Speichelfluss, wie es vor allem bei Parkinsonkranken untersucht wurde, mit Botulinumtoxin- Injektionen in die Speicheldrüsen verringern.(15 ) Vermehrter Tränenfluss während des Essens als Folge einer Fazialisparese (Krokodilstränen) kann durch Botulinustoxin-Injektionen in die Tränendrüse gemildert werden.
Schmerzzustände
Über die Muskelrelaxation kann Botulinumtoxin analgetisch wirken (eventuell spielt ebenfalls die oben erwähnte Beeinflussung von schmerzübertragenden Substanzen eine Rolle), weshalb es auch bei eigentlichen Schmerzzuständen untersucht wurde. Zu chronischen Schmerzen des Bewegungsapparates – Kreuzschmerzen, Epicondylitis u.a. – finden sich einzelne Studien, die über eine Schmerzlinderung berichten. Ein eindeutiger Nutzen ist aber bislang nicht nachgewiesen worden.(16)
Bei Migräne sowie Spannungs- und zervikogenen Kopfschmerzen ergaben sich mit Botulinumtoxin sowohl positive wie negative Resultate; eine endgültige Schlussfolgerung ist deshalb nicht möglich.(17)
Gastrointestinale Erkrankungen
In mehreren klinischen Studien wurde gezeigt, dass sich mit Botulinumtoxin eine Achalasie behandeln lässt. In den ersten Wochen nach der endoskopischen Injektion in den unteren Ösophagussphinkter sind Abnahme von Sphinkterdruck und Beschwerden (Dysphagie, Aufstossen u.a.) etwa gleich gut wie nach pneumatischer Dilatation oder einer chirurgischen Myotomie. Im Langzeitverlauf beobachtet man aber nach einer Botulinumtoxin- Injektion das schlechtere Ergebnis.(18),(19)
Bei chronischer Analfissur können Botulinumtoxin-Injektionen in die anale Sphinktermuskulatur zur Heilung beitragen. Der Effekt scheint allerdings nicht besser zu sein als mit Nitroglycerin- Salbe und weniger gut als bei einer chirurgischen Sphinkterotomie.( 20)
Neurogene Blasenstörungen
Botulinumtoxin wird bei verschiedenen Formen von Dysfunktionen im unteren Harntrakt eingesetzt. Die submuköse Injektion von Botulinumtoxin in den Detrusormuskel wird als Behandlungsmöglichkeit bei Detrusorhyperaktivität angegeben, wenn Anticholinergika zu wenig wirken oder nicht vertragen werden. Untersucht wurde der Effekt vor allem bei Fällen mit neurogener Ursache. So liess sich bei Personen mit Rückenmarksverletzung oder multipler Sklerose die Anzahl von Inkontinenzepisoden gegenüber Placebo signifikant senken.(21)
Faltenbehandlung
Botulinumtoxin-Injektionen im Gesicht dürften heutzutage die häufigste Behandlung in der ästhetischen Medizin sein. Es wird vor allem zur Behandlung von mimisch bedingten Falten verschiedenster Lokalisation verwendet, beispielsweise im Bereich der Glabella (Zornesfalten), der Stirn, des lateralen Augenwinkels (Krähenfüsse), des Mundes oder der Hals-Nacken- Region; dabei wird es zuweilen auch mit Füllsubstanzen wie Kollagen oder Hyaluronsäure-Derivaten kombiniert.(22) Durch Botulinumtoxin wird die mimische Muskulatur relaxiert, die durch ihre Aktivität zur übermässigen Faltenbildung beiträgt. Am besten untersucht ist die Anwendung bei Glabellafalten, der zur Zeit einzigen offiziellen Indikation. In mehreren Doppelblindstudien wurde gezeigt, dass Botulinumtoxin Glabellafalten in einem signifikant höheren Prozentsatz vermindert oder zum Verschwinden bringt als Placebo. Die Wirkung von Botulinumtoxin hielt in über 50% der Fälle 3 Monate und in über 25% der Fälle 6 Monate lang an. Auch zur Anwendung bei Stirnfalten und bei Krähenfüssen gibt es vereinzelte placebokontrollierte Studien, die einen Vorteil von Botulinumtoxin dokumentieren.(23),(24)
Nebenwirkungen und Vorsichtsmassnahmen
Häufigste Nebenwirkung einer Behandlung mit Botulinumtoxin sind injektionsbedingte lokale Reaktionen oder Komplikationen, die mehrheitlich gutartig verlaufen, wie Schmerzen, Hautrötung und -schwellung, Blutungen, vorübergehende Hypästhesie oder Verletzungen benachbarter Strukturen.
Durch eine übermässige lokale Wirkung können Muskeln geschwächt oder Drüsen gehemmt werden, die im Randbereich des Zielgebietes liegen – Nebenwirkungen, die wie die gewünschten Effekte ebenfalls lang anhalten können. Bei einer Anwendung im Gesicht kann Botulinumtoxin (anscheinend häufiger bei den nicht-ästhetischen Indikationen) zu Lidptose, Lagophthalmus, Doppelbildern oder Einschränkung der Mimik führen, bei Anwendung in der Halsregion zu Dysphagie, Heiserkeit oder Mundtrockenheit; daraus können sich dann sekundär weitere Komplikationen entwickeln (Keratitis mit Hornhautulzera, Aspirationspneumonie). Auch einzelne Fälle eines leichten Botulismus mit generalisierter Muskelschwäche sind beschrieben.(25) Schwere Botulismus-Fälle haben sich erst mit hochkonzentrierten, nicht offiziell zugelassenen Präparaten ereignet.(26)Um eine Ausbreitung übers Zielgebiet zu verhindern, sollten immer möglichst kleine Dosen sowie Injektionsvolumina verwendet werden.
Bei einer Langzeitanwendung ist damit zu rechnen, dass sich an den behandelten Muskeln eine Atrophie ausbildet (was bei hypertrophen, dystonen Muskeln erwünscht ist). Hingegen ist bislang nicht beobachtet worden, dass sich bei den Synapsen eine Dauerschädigung entwickeln würde.
Selten kommen Allgemeinreaktionen wie Übelkeit, Müdigkeit oder grippeartige Symptome vor, vor allem wenn hohe Dosen wie bei der Behandlung der Spastizität grosser Muskelgruppen verwendet werden. Auch über einzelne Fälle von Hautausschlägen oder anaphylaktischen Reaktionen wurde berichtet (wobei zum Teil ein Zusammenhang mit beigemischtem Lidocain postuliert wird).
Bei einem kleinen Prozentsatz der Behandelten löst Botulinumtoxin die Bildung von Antikörpern aus, was bei erneuter Anwendung mit einer verminderten Wirkung einhergehen kann. Das Risiko der Antikörperbildung scheint mit der Höhe der Dosis und der Verabreichungsfrequenz zuzunehmen; es wird deshalb empfohlen, bis zu einer nächsten Behandlung jeweils mindestens 3 Monate zu warten.
Als Kontraindikation für Botulinumtoxin gelten vorbestehende neuromuskuläre Erkrankungen (Myasthenia gravis u.a.). Vorsicht ist geboten, wenn Botulinumtoxin mit anderen Medikamenten kombiniert wird, welche die neuromuskuläre Übertragung hemmen (z.B. Aminoglykoside, Muskelrelaxantien). In der Schwangerschaft und Stillzeit sollte Botulinumtoxin mangels Daten nicht verwendet werden.
Schlussfolgerungen
Botulinumtoxin wird zunehmend in verschiedenen medizinischen Gebieten als therapeutische Substanz eingesetzt, wobei viele Anwendungen ausserhalb der offiziellen Indikationen geschehen («off label»). Bei Krankheiten wie Dystonien und Spastizität ist Botulinumtoxin als eine eindeutige Erweiterung oder Verbesserung der therapeutischen Möglichkeiten zu betrachten, was – zum Beispiel bei einer Spastik – auch eine günstigere Prognose in Bezug auf Langzeitfolgen bedeuten
kann. Allerdings ist die Anwendung von Botulinumtoxin über eine längere Frist im Rahmen klinischer Studien noch kaum untersucht. Als weiterer Nachteil fällt ins Gewicht, dass die Behandlung mit einem gewissen Aufwand verbunden ist und wegen der sich verlierenden Wirkung regelmässig wiederholt werden muss. Dies ist sicher auch ein Grund dafür, dass der Stellenwert von Botulinumtoxin bei anderen in Frage kommenden Einsatzgebieten noch nicht festgelegt werden kann. Dass Botulinumtoxin mit der Anwendung in der ästhetischen Medizin Platz in der «Lifestyle-Liga» gefunden hat, trifft den Zeitgeist: die Frage nach dem Krankheitswert von Falten und nach dem Sinn einer medikamentösen Retusche wird allein durch das Angebot offenbar genügend beantwortet.
Botulinumtoxin gehört nur in die Hände von versierten Fachleuten, da es sich einerseits um eine potentiell gefährliche Substanz handelt, andererseits der Therapieerfolg wesentlich durch die Erfahrung der behandelnden Person bestimmt wird.
Literatur
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