Sertindol

Synopsis

Sertindol (Serdolect ® ) ist ein neues Neuroleptikum, das zur Behandlung der Schizophrenie empfohlen wird.

Chemie/Pharmakologie

Sertindol, chemisch ein Phenylindol-Derivat, wird wie Clozapin (Leponex®), Risperidon (Risperdal®) und Olanzapin (Zyprexa®) zu den atypischen Neuroleptika gezählt. Diese Substanzen grenzen sich von den klassischen Neuroleptika ab, indem sie weniger extrapyramidale Nebenwirkungen verursachen und vermutlich die Negativsymptome einer Schizophrenie (Aufmerksamkeitsstörungen, Apathie, sozialer Rückzug) besser lindern. Die Unterschiede erklärt man sich mit den neuropharmakologischen Eigenschaften. Bei allen Neuroleptika beruht ein wichtiger Teil der Wirkung auf einer Hemmung von Dopamin-D2 -Rezeptoren. Doch während klassische Neuroleptika eine hohe Affinität zur nigrostriatalen Gehirnregion aufweisen, binden sich die atypischen Neuroleptika bevorzugt an mesolimbische Neuronen. Zusätzlich blockieren die atypischen Neuroleptika weitere Rezeptoren; so sind im Falle von Sertindol serotoninerge 5-HT2 - und noradrenerge a1 -Rezeptoren beteiligt. Bei atypischen Neuroleptika ist auch der Einfluss auf den Prolaktin-Spiegel geringer.(1,2)

Pharmakokinetik

Nach peroraler Verabreichung von Sertindol sind maximale Plasmaspiegel nach etwa 10 Stunden erreicht. Die biologische Verfügbarkeit ist erst bei Tieren gemessen und wird mit 74% angegeben. Im Plasma bindet sich die Substanz zu über 99% an Eiweisse. Sertindol wird hauptsächlich in der Leber durch das Zytochrom-P450-System abgebaut, und zwar über CYP2D6 und eine noch nicht exakt bestimmte CYP3A-Isoform (vermutlich 3A4). Es sind zwei Metaboliten identifiziert, wovon einer pharmakologisch schwach aktiv ist; beide werden grossenteils via Galle in den Stuhl ausgeschieden. Die Plasmahalbwertszeit von Sertindol beträgt 55 bis 90 Stunden. Bei Personen mit einer verringerten CYP2D6-Aktivität (Debrisoquin-Polymorphismus) kann sich die Halbwertszeit erheblich verlängern. Im Alter und bei Niereninsuffizienz verändert sich die Pharmakokinetik nicht wesentlich, während bei Leberinsuffizienz mit einer Abnahme der Clearance zu rechnen ist.(2,3,4,5)

Klinische Studien

In den sechs klinischen Studien, zu denen Daten verfügbar sind, wurde Sertindol mit Placebo oder Haloperidol (Haldol® u.a.) verglichen.(2) Sie umfassten rund 2'100 Personen mit einer Schizophrenie, die sich mit mittel- bis schwergradigen Symptomen präsentierten und die auf Neuroleptika bereits einmal angesprochen hatten oder noch nie mit Neuroleptika behandelt worden waren. Wie üblich, wenn Neuroleptika geprüft werden, verwendete man in den klinischen Studien mit Sertindol bestimmte psychiatrische Bewertungsskalen: Die antipsychotische Wirkung wurde mit der PANSS (Positive and Negative Syndrome Scale), SANS (Scale for the Assessment of Negative Symptoms), BPRS (Brief Psychiatric Rating Scale) und CGI-Skala (Clinical Global Impression) beurteilt; extrapyramidale Effekte erfasste man mit der AIMS (Abnormal Involuntary Movement Scale), Simpson-Angus-Skala und Barnes-Akathisie-Skala.
Von den erwähnten sechs Studien - sie waren mehrheitlich multizentrisch organisiert - sind drei in ausführlicher Form veröffentlicht:
In einer Doppelblindstudie wirkten alle drei geprüften Sertindol-Dosen (8, 12 bzw. 20 mg/Tag) besser als Placebo. Der Effekt war dosisabhängig; ein signifikanter Unterschied war aber nur mit der höchsten Dosis von 20 mg/Tag festzustellen.(6)
In einer anderen Studie wurden 477 hospitalisierte Personen in sieben Gruppen unterteilt und 8 Wochen lang doppelblind entweder mit Placebo, Sertindol (12, 20 bzw. 24 mg/Tag) oder Haloperidol (4, 8 bzw. 16 mg/Tag) behandelt. In den Sertindol-Gruppen wurde mit 4 mg/Tag gestartet und alle 3 Tage um 4 mg/Tag gesteigert, bis die Zieldosis erreicht war. In den Haloperidol-Gruppen begann man ebenfalls mit 4 mg/Tag; je nach vorgesehener Dosis wurde nach 3 Tagen auf 8 mg/Tag und nach weiteren 3 Tagen auf 16 mg/Tag erhöht. Bei der Analyse sind Sertindol und Haloperidol nur in bezug auf extrapyramidale Nebenwirkungen direkt miteinander, ansonsten nur jeweils mit Placebo verglichen worden. Beide Neuroleptika zeigten in allen Dosierungen eine bessere antipsychotische Wirkung als Placebo, wobei die Unterschiede fast ohne Ausnahme signifikant waren. Die Überlegenheit beider Substanzen liess sich auch bei den Negativsymptomen (PANSS, SANS) nachweisen. Gegenüber Placebo ergab sich indessen nur mit der mittleren Sertindol-Dosis (20 mg/Tag) ein längerfristiger signifikanter Unterschied. Allerdings sind auf der SANS-Skala für Haloperidol keine Berechnungen zur Signifikanz aufgeführt.(7)
Bei 203 Personen, die in ambulanter Behandlung standen und bereits mindestens 3 Monate lang mit einem der klassischen Neuroleptika vorbehandelt waren, verglich man Sertindol während 12 Monaten lang doppelblind mit Haloperidol. Während der ersten 3 Wochen wurde die vorhergehende Neuroleptika-Behandlung schrittweise abgesetzt; in diesem Zeitraum hatte man die Dosierungen der Studienmedikamente von 4 auf 24 mg/Tag (Sertindol) bzw. von 5 auf 10 mg/Tag (Haloperidol) erhöht. Neben den psychiatrischen Bewertungsskalen wurden auch Behandlungsabbrüche, Therapieversagen (Krankheitsrückfalle) und damit verbundene Hospitalisationen in die Beurteilung einbezogen. In beiden Gruppen beendeten über die Hälfte der Behandelten die Studie vorzeitig. Sertindol zeigte sich gemäss mehreren Kriterien Haloperidol überlegen. Insgesamt waren die Unterschiede aber nur in wenigen Punkten signifikant - zum Beispiel, wenn auf die Zeitspanne geachtet wurde, bis ein Rückfall auftrat und eine Hospitalisation nötig war.(8)
Bislang liegen keine Ergebnisse von Studien vor, in denen Sertindol mit anderen atypischen Neuroleptika verglichen worden ist. Ebenso sind keine systematischen Untersuchungen durchgeführt worden bei Personen, die gegenüber anderen Neuroleptika therapieresistent waren.

Unerwünschte Wirkungen

Als häufige unerwünschte Wirkungen von Sertindol werden verstopfte Nase, Schwindel, Mundtrockenheit, orthostatische Hypotonie, Tachykardie, Ödeme, Parästhesien und Gewichtszunahme genannt. Bei Männern kann sich das Ejakulatvolumen reduzieren; andere sexuelle Störungen sind damit nicht verbunden. In seltenen Fällen sind Leberenzymerhöhungen und Konvulsionen beobachtet worden.
Extrapyramidale Nebenwirkungen traten unter Sertindol signifikant weniger auf als unter Haloperidol und waren ungefähr gleich häufig wie mit Placebo.
Sertindol verzögert dosisabhängig die Repolarisationsphase des Herzens, was sich in einer Verlängerung des QT- bzw. des auf die Herzfrequenz bezogenen QTc-Intervalls äussern kann. Eine QTc-Verlängerung auf über 500 ms gilt als Risikofaktor für ventrikuläre Arrhythmien (z.B. Torsades de pointes). Das Phänomen kann auch bei anderen Neuroleptika vorkommen, scheint sich jedoch bei Sertindol in besonderem Mass zu manifestieren. Das QTc-Intervall verlängert sich im Durchschnitt um 5% und wird bei 2 bis 4% der Behandelten in einen Bereich von über 500 ms verschoben. Das damit verbundene Arrhythmie-Risiko wird auf 0,1 bis 0,2% geschätzt. Eindeutige Fälle von Arrhythmien sind bislang nicht bekannt geworden. Es werden aber Todesfälle erwähnt, die diesbezüglich nicht ganz geklärt sind.(2)

 

Interaktionen
Gemäss den bisherigen Untersuchungen hat Sertindol keinen bedeutsamen Einfluss auf die Pharmakokinetik von anderen Medikamenten. Hingegen können Substanzen, die Zytochrom-P450-Enzyme hemmen, einen erheblichen Anstieg der Sertindol-Plasmakonzentrationen bewirken. Dies gilt für CYP2D6-Hemmer wie Fluoxetin (Fluctine® u.a.) oder Paroxetin (Deroxat®) und potente CYP3A4-Hemmer wie Ketoconazol (Nizoral®) oder Itraconazol (Sporanox®).(2,3) In einer Studie bei Freiwilligen veränderte Erythromycin (Erythrocin ® u.a.), ein weniger starker CYP3A4-Hemmer, den Metabolismus von Sertindol nicht signifikant.(9) Zusammen mit Enzyminduktoren wie Phenytoin (Epanutin® u.a.) oder Carbamazepin (Tegretol® u.a.) ist mit einem beschleunigten Abbau von Sertindol zu rechnen. Nach Absetzen von Paroxetin ist unter Sertindol ein ausgeprägtes Entzugssyndrom (Erregtheit, Schlaflosigkeit) beobachtet worden, das möglicherweise als pharmakodynamische Interaktion zu werten ist.(10)

Dosierung, Verabreichung, Kosten

Sertindol (Serdolect® ) ist kassenzulässig und als Tabletten zu 4, 12, 16 und 20 mg erhältlich. Das Mittel wird einmal pro Tag verabreicht. Die Behandlung soll mit einer Dosis von 4 mg/Tag begonnen werden, die man allmählich steigert, bis der gewünschte Effekt erzielt ist. Die Höchstdosis beträgt 24 mg/Tag. Sertindol eignet sich nicht zur Akutbehandlung. In der Schwangerschaft darf Sertindol nur bei dringender Indikation verabreicht werden. Bei stillenden Frauen und bei Kindern sind keine eingehenden Erfahrungen vorhanden.
Vor einer Behandlung soll ein EKG angefertigt werden - gefolgt von einer Kontrolle, nachdem man die letzte Dosiserhöhung vor-genommen hat. Sertindol ist kontraindiziert bei Herzkrankheiten, ausgeprägter Hypokaliämie oder in Kombination mit anderen Medikamenten, die das QTc-Intervall verlängern.
In einer Dosierung von 12 bis 20 mg/Tag kostet Sertindol 229 bis 321 Franken pro Monat. Haloperidol (Haldol® u.a.) ist deutlich billiger (mit 10 mg/Tag knapp 46 Franken pro Monat). Preisvergleiche mit anderen atypischen Neuroleptika sind nur näherungsweise möglich, weil keine äquivalenten Dosen bestimmt sind: Pro Monat kostet Olanzapin (Zyprexa®, 10 bis 15 mg/Tag) 414 bis 577 Franken, Risperidon (Risperdal®, 4 bis 8 mg/Tag) 184 bis 368 Franken und Clozapin (Leponex®, 200 bis 400 mg/Tag) 113 bis 226 Franken.

Kommentar

Wie andere atypische Neuroleptika zeichnet sich Sertindol gegenüber den herkömmlichen Mitteln durch eine wesentlich geringere Rate extrapyramidaler Nebenwirkungen aus. Ob sich Sertindol in bezug auf Spätdyskinesien oder das maligne neuroleptische Syndrom ebenso günstig verhält, weiss man nicht, da umfassende Langzeiterfahrungen fehlen. Der andere propagierte Hauptvorteil - eine bessere Wirksamkeit bei Negativsymptomen - hat sich in den publizierten Vergleichen mit Haloperidol angedeutet, ist aber noch nicht überzeugend dokumentiert. Die Beobachtung, dass Sertindol eine Verlängerung des QTc-Intervalls hervorruft, mahnt zur Vorsicht und ist offenbar auch für die amerikanische Arzneimittelbehörde FDA ein strittiger Punkt.(2) Die Probleme, die man sich in dieser Hinsicht zum Beispiel mit den Antihistaminika wie Terfenadin (Teldane®) oder Astemizol (Hismanal®) eingehandelt hat, sind noch in wacher Erinnerung..

Literatur

  1. 1) Anon. Drug Ther Bull 1997; 35: 81-3
  2. 2) Brown LA, Levin GM. Pharmacotherapy 1998; 18: 69-83
  3. 3) Ereshefsky L. J Clin Psychiatry 1996; 57 (Suppl 11): 12-25
  4. 4) Wong SL et al. Clin Pharmacol Ther 1997; 62: 157-64
  5. 5) Wong SL et al. Eur J Clin Pharmacol 1997; 52: 223-7
  6. 6) Van Kammen DP et al. Psychopharmacology 1996; 124: 168-75
  7. 7) Zimbroff DL et al. Am J Psychiatry 1997; 154: 782-91
  8. 8) Daniel DG et al. Psychopharmacol Bull 1998; 34: 61-9
  9. 9) Wong SL et al. J Clin Pharmacol 1997; 37: 1056-61
  10. 10) Walker-Kinnear M, McNaughton S. Br J Psychiatry 1997; 170: 389

Standpunkte und Meinungen

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Sertindol (9. Juli 1998)
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