Vom Umgang mit neuen Medikamenten

ceterum censeo

Hätte ich den Rat von Sidney M. Wolfe befolgt, so wäre mir die Mühe erspart geblieben, zwei meiner Patientinnen zu erläutern, weshalb sie kein Mibefradil (Posicor®) mehr nehmen sollen. Wolfe ist der Herausgeber des amerikanischen Newsletters «Worst Pills - Best Pills». Sein Ratschlag lautet, nach der Einführung eines neuen Medikaments fünf Jahre zu warten, bis man es verwendet. Als Ausnahmen akzeptiert er «rare breakthrough drugs», die einen gut dokumentierten Vorteil gegenüber älteren, bewährten Arzneimitteln aufweisen. Solche Ausnahmen sind seiner Meinung jedoch wirklich sehr selten - er zählt z.B. auch die Angiotensin-Rezeptorantagonisten wie Losartan (Cosaar®) nicht dazu.

Was nun das unglückliche Mibefradil anbelangt, kann ich immerhin anführen, dass mir mögliche Interaktions-Gefahren durchaus bewusst waren, hatte ich ja selbst davor gewarnt.(1) So erlitt auch niemand, dem ich Mibefradil verschrieben habe, infolge dieses Medikamentes einen Schaden. Dies trifft natürlich auch für unzählige weitere Personen zu, die das neue Medikament erhalten haben. Bei einer kleinen Minderheit von Kranken führte Mibefradil aber zu gefährlichen Nebenwirkungen, fast immer als Folge von Interaktionen mit anderen Medikamenten. Gemäss einer aktuellen Publikation sind lebensbedrohliche Interaktionen auch noch kurz nach dem Absetzen von Mibefradil möglich: in vier Fällen kam es wahrscheinlich infolge Interaktion mit Dihydropyridin-Kalziumantagonisten zu einem Schockzustand, eine Patientin starb.(2)

Verhältnismässig seltene Nebenwirkungen - solche, die durchschnittlich nicht häufiger als einmal bei 1000 Behandelten auftreten - werden in den Studien vor der Markteinführung oft nicht erfasst. In den klinischen Studien werden zudem Personen mit Eigenschaften, die zu Komplikationen führen könnten, sorgfältig ausgeschlossen. Nach der offiziellen Zulassung werden allfällige Einschränkungen zweifellos weniger streng beachtet. Dies gilt besonders, wenn ein Medikament mit so grossem Aufwand eingeführt wird, wie dies bei Mibefradil der Fall war. In der Schweiz erhielt die Ärzteschaft schon Wochen vor der offiziellen Einführung («Première») Hinweise auf dieses neue Antihypertensivum. Auch hatte zum Beispiel eine meiner Patientinnen, die das Medikament seit letztem Winter nahm, in der «Schweizer Illustrierten» davon gelesen und den Wunsch geäussert, mit diesem neuen Mittel behandelt zu werden. Im Internet waren mindestens drei verschiedene Posicor®-Websites zu finden. Kurz: im Fall von Posicor® war alles unternommen worden, um dem Präparat zu einem raschen Start zu verhelfen.

Hat also Wolfe doch recht? Sollten wir immer ein paar Jahre warten, bis wir neu eingeführte Arzneimittel verschreiben? Die Antwort auf diese Frage ist keineswegs so einfach, wie der Antagonismus «bad pills» und «good pills» suggeriert. Was würde geschehen, wenn wir uns alle an die Fünfjahres-Regel halten würden? Wir wären fünf Jahre später nur wenig klüger, da dann zwar aus den allenfalls inzwischen durchgeführten Studien Resultate vorlägen, jedoch keine Erfahrungen aus dem Praxisalltag hinzugekommen wären. Auf diese Weise würde natürlich auch die Arbeit der Zulassungsbehörden ad absurdum geführt, da wir mit unserem Embargo gewissermassen manifestierten, dass es noch nicht Zeit sei, das neue Mittel zu verwenden. Ein Teil der ärztlichen Kunst besteht deshalb sicher darin, neue therapeutische Möglichkeiten nicht zu früh, aber auch nicht mit ungebührlicher Verspätung zu berücksichtigen.

Die Aufgabe, die beste Therapie für jedes Individuum zu finden, wird uns von der Industrie allerdings nicht leicht gemacht. Jede Firma ist praktisch genötigt, ein neu eingeführtes Medikament so darzustellen, als ob es den bisherigen Mitteln überlegen wäre. Alle wissen aber, dass dies nur ausnahmsweise zutrifft. Zu älteren Mitteln steht uns meistens nicht nur eine viel umfassendere allgemeine Dokumentation zur Verfügung, sondern wir besitzen nicht selten zusätzlich Daten zu klinisch relevanten Endpunkten, die erst nach vielen Jahren Anwendung gewonnen werden konnten. So wissen wir zum Beispiel zuverlässig, dass Diuretika und Betablocker die Morbidität und Mortalität von Personen mit erhöhtem Blutdruck senken. Von neueren Antihypertensiva nehmen wir dagegen an, dies sei so, weil sie den Blutdruck in vergleichbarem Ausmass senken. Wie das Beispiel von Mibefradil zeigt, spielen neben der antihypertensiven Wirkung vorsehbare und nicht-vorhersehbare Risiken eine bedeutende Rolle. Neue Medikamente, so attraktiv sie primär erscheinen mögen, sind also mit einem doppelten Handicap belastet: einerseits fehlen oft Daten zu klinischen Endpunkten, anderseits tappt man im Dunkeln, was ganz seltene Nebenwirkungen anbelangt.

Zu Beginn der Laufbahn eines Medikamentes ist also eine gute Portion Misstrauen durchaus angezeigt. Es wäre aber meines Erachtens falsch, jeden «Neuling» aus unseren therapeutischen Erwägungen auszusperren. Es trifft zwar zu, dass die weitaus meisten «neuen» Medikamente nicht radikal neu sind, sondern einer bereits vorhandenen Substanz nachgebildet sind. Diese Pseudo-Originale sind in der Regel keine «breakthroughs». Wenn wir uns aber überlegen, welche Medikamente wir heute als bewährt ansehen, so zeigt sich rasch, dass es sich vorwiegend um solche Pseudo-Originale handelt. Ranitidin (Zantic® u.a.) war nicht der erste H2-Rezeptorantagonist, Atenolol (Tenormin® u.a.) nicht der erste Betablocker, Ibuprofen (Brufen® u.a.) nicht das erste moderne Antirheumatikum, Enalapril (Reniten® ) nicht der erste ACE-Hemmer usw. Diese Substanzen haben sich durchgesetzt, weil sie gegenüber dem Original oder gegenüber weiteren Konkurrenten Vorteile z.B. in ihrer Verträglichkeit oder in ihren kinetischen Eigenschaften aufweisen. Mit der Zeit entwickeln sich solche Medikamente zu Referenzsubstanzen, obwohl sie nicht Prototypen im eigentlichen Wortsinn sind.

Oft entscheidet nicht die Hauptwirkung einer Substanz über die Qualität eines Arzneimittels, sondern die «Begleitumstände»: Das seit langem verblichene Practolol (Eraldin® ) hatte wohl ebenso gute Betablocker-Eigenschaften wie Atenolol, führte aber zu unerträglichen Nebenwirkungen. Ähnliche Überlegungen gelten zu den Antirheumatika Carprofen (Imadyl®), Pirprofen (Rengasil®), Isoxicam (Pacyl®), den Serotonin-Wiederaufnahmehemmer Zimelidin (Normud®) und viele andere mehr. Der Weg von einem echten Original zu der oder den Referenzsubstanz(en) einer Medikamentenklasse ist also keineswegs geradlinig. In der Regel sind jedoch die wichtigsten erwünschten Wirkungen innerhalb einer Klasse recht zuverlässig anzutreffen -- man spricht nicht zu Unrecht von einem Klasseneffekt. Daraus ergibt sich die Folgerung, dass jede neue Substanz einer Klasse eigentlich prüfenswert ist.

Zu den Kriterien, die uns veranlassen können, ein neues Medikament zu verschreiben, gehören nicht selten auch solche kinetischer Natur. Wenn eine Substanz - wie z.B. Mibefradil - ohne spezielle Retardierung nur einmal täglich gegeben werden muss und die Wirkung dennoch 24 Stunden anhält, so versprechen wir uns eine zuverlässigere Wirkung als bei einem kürzer wirkenden Medikament. In anderen Fällen mag ein rascher Wirkungseintritt, eine hohe Konstanz der Bioverfügbarkeit oder ein anderes kinetisches Argument dazu beitragen, dass ein neues Medikament attraktiv erscheint.

Nicht ganz zu vernachlässigen ist schliesslich der Preis. Nur allzu oft bezahlt man für neue Medikamente eine zusätzliche Prämie. Neue Arzneimittel, die einigermassen mit älteren Vertretern ihrer Substanzklasse vergleichbar sind, aber weniger kosten, verdienen sicher unsere Aufmerksamkeit. Mibefradil schien ja auch in dieser Hinsicht verhältnismässig günstig abzuschneiden, wenn auch im Vergleich mit anderen Antihypertensiva noch einige Unsicherheit in bezug auf äquipotente Dosen bestand.

Ein anderes aktuelles Beispiel ist der Lipidsenker Atorvastatin (Sortis®), der in der üblichen 10-mg-Dosis die cholesterinsenkende Wirkung der anderen Statine klar übertrifft.3 Es ist mir bewusst, dass für Atorvastatin im Gegensatz zu Pravastatin (Selipran® u.a.) und Simvastatin (Zocor®) bisher keine Studienresultate mit klinischen Endpunkten vorhanden sind. Ich weiss auch, dass die Hersteller der älteren Statine grossen Wert darauf legen, dass die mit ihren Medikamenten erreichten guten Resultate nicht einem Klasseneffekt der Statine entsprechen. Da Atorvastatin aber deutlich billiger ist als Pravastatin und Simvastatin in üblicher Dosis, sollte es wohl dennoch in Betracht gezogen werden, wenn eine lipidsenkende Medikation indiziert ist.

Dennoch gehört auch Atorvastatin nach Wolfe eindeutig zu den Arzneimitteln, für die seine Fünfjahresregel gilt. Und er hat natürlich völlig recht, dass unser Wissen zu Atorvastatin (wie zu anderen neuen Mitteln) vergleichsweise sehr bescheiden ist. Ein Absturz à la Mibefradil ist nicht ausgeschlossen. Wenn wir uns dennoch entschliessen, ein solches Medikament zu verschreiben: was können wir tun, um einen allfälligen Schaden so klein wie möglich zu halten? Ich möchte dazu drei einfache Regeln vorschlagen:

  1. Daran denken, dass jemand mit einem neuen Medikament behandelt wird. Wenn die entsprechenden Krankengeschichten speziell markiert werden, so fällt es leichter, doppelt und dreifach aufmerksam auf allfällige Nebenwirkungen zu achten.
  2. Im Zweifelsfall nicht zögern, ein Medikament abzusetzen. Es gibt viele, zu viele Berichte über Nebenwirkungen, die schlimmer wurden, weil der Reflex «absetzen» nicht funktionierte.
  3. Falls tatsächlich ein unerwünschtes Ereignis auftritt, das mit dem neuen Medikament im Zusammenhang zu stehen scheint, unbedingt melden. In der Schweiz sind das Meldezentrum für unerwünschte Arzneimittelwirkungen der IKS (Bern) und die Schweizerische Arzneimittel-Nebenwirkungs-Zentrale SANZ (Chur) die wichtigsten Sammelstellen für solche Meldungen.

Literatur

  1. 1) Gysling E. pharma-kritik 1997; 19: 25-7
  2. 2) Mullins ME et al. JAMA 1998; 280: 157-8
  3. 3) Jones P et al. Am J Cardiol 1998; 81: 582-7

Standpunkte und Meinungen

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Vom Umgang mit neuen Medikamenten (9. Juli 1998)
Copyright © 2024 Infomed-Verlags-AG
pharma-kritik, 19/No. 18
PK393
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