Riluzol

Synopsis

Riluzol (Rilutek®) ist ein neu auf dem Schweizer Markt eingeführter Glutamatantagonist, der zur Behandlung der amyotrophen Lateralsklerose empfohlen wird.

Chemie/Pharmakologie

Riluzol gehört zu den Benzothiazol-Derivaten (2-Amino-6- trifluoromethoxy-benzothiazol). Die neuroprotektiven Wirkungen von Riluzol konnten in verschiedenen Zellkultur- und Tiermodellen nachgewiesen werden. Die Studienergebnisse deuten darauf hin, dass Riluzol in die Neurotransmission eingreift, indem es Glutamat, den wichtigsten exzitatorischen Neurotransmitter im Zentralnervensystem, beeinflusst.(1, 2) Es hemmt einerseits die Glutamatfreisetzung, anderseits auch postsynaptische Effekte des Glutamats durch Inaktivierung spannungsabhängiger Natriumkanäle und modifiziert indirekt die Aktivierung der Glutamatrezeptoren. Da sich Riluzol an keinen der bekannten Glutamatrezeptor-Subtypen bindet, wird vermutet, es verhindere die von Glutamat ausgelösten Prozesse direkt.
In hohen Konzentrationen hat Riluzol auch sedative und antikonvulsive Eigenschaften.

Pharmakokinetik

Nach oraler Gabe wird Riluzol zu etwa 90% resorbiert. Präsystemisch wird die Substanz individuell sehr unterschiedlich metabolisiert, so dass die Bioverfügbarkeit zwischen 30% und 100% liegen kann. Maximale Plasmaspiegel sind innerhalb von 1 bis 1,5 Stunden erreicht. Wird das Medikament mit einer fettreichen Mahlzeit zusammen eingenommen, so werden Spitzenspiegel mit einer Verzögerung von bis zu 2 Stunden beobachtet. Riluzol wird gut im Körper verteilt (mittleres Verteilungsvolumen: 200 l). Es unterliegt einer extensiven Biotransformation in der Leber: vorwiegend durch das Zytochrom CYP 1A2 wird es hydroxyliert und anschliessend an Glukuronsäure konjugiert. Von den bis jetzt etwa 20 isolierten Metaboliten weiss man nicht sicher, ob sie pharmakologisch aktiv sind. Die Eliminationshalbwertszeit liegt durchschnittlich im Bereich von 12 Stunden. Ein Fliessgleichgewicht ist nach 2 bis 7 Tagen erreicht. Etwa 91% der Dosis sind in metabolisierter Form im Urin auffindbar, rund 5% werden mit dem Stuhl ausgeschieden.(2)

Pathogenese der amyotrophen Lateralsklerose

Die amyotrophe Lateralsklerose (ALS) ist eine progrediente neurodegenerative Krankheit der zentralen (bulbären) wie auch der peripheren motorischen Nervenzellen. Die Patienten sterben innerhalb von 3 bis 5 Jahren nach Diagnosestellung an Ateminsuffizienz. Man nimmt an, dass die betroffenen Nervenzellen aufgrund von genetischer Prädisposition oder von Umweltfaktoren auf eine erhöhte Stimulation des Glutamats im synaptischen Spalt empfindlich sind, was zum Absterben der Nervenzellen führen kann. Indirekte Hinweise zugunsten dieser Hypothese sind eine erhöhte Glutamatkonzentration im Plasma und in der Zerebrospinalflüssigkeit von ALS-Kranken, die Toxizität dieser Zerebrospinalflüssigkeit in neuronalen Zellkulturen und eine reduzierte Kapazität des Glutamat-Aufnahmesystems in autoptisch entnommenem Gewebe. Die Hypothese einer Autoimmunkrankheit wurde aufgegeben, da sich immunsuppressive Therapien nicht erfolgreich gezeigt haben.

Klinische Studien

Die Wirksamkeit von Riluzol zur Behandlung von ALS wurde in zwei randomisierten Studien gegen Placebo getestet.(3, 4) Primäres Endziel dieser Studien war die Überlebenszeit bis zur Tracheotomie oder bis zum Tod. Die funktionellen Fähigkeiten - die muskuläre Kraft des Halses, der oberen und unteren Extremitäten, die respiratorische Kapazität sowie Symptome wie Faszikulationen, Krämpfe, Steifheit und Müdigkeit - wurden mit Hilfe von vier verschiedenen Skalen eingeschätzt. Zusätzlich wurde eine ergänzende statistische Analyse angewendet, die zehn prognostische Risikofaktoren wie Alter, Erkrankungsform und Krankheitsdauer zu Beginn der Studie berücksichtigt.
In der ersten Studie, die an sieben Zentren in Frankreich und Belgien durchgeführt wurde, erhielten 155 ALS-Kranke im Alter von 20 bis 75 Jahren entweder Placebo oder zweimal täglich 50 mg Riluzol. Nach 12 Monaten Behandlung lebten noch 74% der mit Riluzol behandelten ALS-Kranken im Vergleich zu 58% der Placebogruppe. Zu diesem Zeitpunkt betrug die relative Risikoreduktion bezüglich der Tracheotomie oder der Mortalität 34%. Nach 21 Monaten war dieser Unterschied nicht mehr so deutlich: aus der aktiv behandelten Gruppe lebten noch 49%, aus der Placebogruppe noch 37%. Ohne Berücksichtigung der zu Beginn vorhandenen Risikofaktoren erreichten alle diese Werte statistische Signifikanz. Nach Anpassung an die prognostischen Faktoren war jedoch nur noch der Unterschied zum ersten Zeitpunkt (nach 12 Monaten Behandlung) statistisch signifikant.(3) In der zweiten, wesentlich grösseren Studie wurde grundsätzlich bestätigt, dass Riluzol die Überlebenswahrscheinlichkeit erhöht. An dieser Studie waren 959 ALS-Kranke im Alter von 18 bis 75 Jahren beteiligt. Verschiedene Riluzol-Dosen (täglich zweimal 25, 50 oder 100 mg) wurden im Vergleich mit Placebo geprüft. Aus der Placebogruppe lebten nach 18 Monaten noch 50% ohne Tracheostomie, aus der Gruppe mit einer Tagesdosis von 50 mg 55%, aus der 100-mg-Gruppe 57% und aus der 200-mg-Gruppe 58%. Die relative Risikoreduktion war maximal nach 12 Monaten (28% für die niedrigste Riluzol-Dosis, 43% für die mittlere und die höchste Dosis); nach 18 Monaten betrug die Risikoreduktion für die drei Gruppen noch 24%, 35% und 39%. Der Unterschied zwischen der mit 50 mg Riluzol behandelten Gruppe und der Placebogruppe war statistisch nicht signifikant und die Resultate bei den mit höheren Dosen behandelten Kranken erreichten erst nach Anpassung an die prognostischen Faktoren statistische Signifikanz.(4)
Die Resultate der zwei Studien unterscheiden sich hauptsächlich in zweierlei Hinsicht: Erstens konnte in der grösseren Studie in den funktionellen Tests kein statistisch signifikanter Vorteil der Riluzol-Gruppe gegenüber der Placebogruppe bestätigt werden. Angesichts der hohen Variabilität der Daten sollten daraus aber keine Schlussfolgerungen gezogen werden. Zweitens war in der kleineren Studie eine stärkere Wirkung bei ALS-Kranken mit primär bulbärer Affektion beobachtet worden. Dies liess sich in der grösseren Studie nicht nachweisen: hier war die Wirkung von Riluzol unabhängig von der Erkrankungsform.

Unerwünschte Wirkungen

Zu den häufigsten unter Riluzol beobachteten Nebenwirkungen gehören Asthenie (bei 18% der mit Riluzol Behandelten), Brechreiz (16%) und Erbrechen (3%). Diese Symptome traten dosisabhängig auf, wie übrigens auch Schläfrigkeit, Schwindel und zirkumorale Parästhesien. Bei den Laboruntersuchungen fand sich ein dosisabhängiger Anstieg der Transaminasen (insbesondere der Alanin-Aminotransferase ALT, SGPT); bei 8% der mit Riluzol behandelten Personen stiegen die Transaminasen um das 3- bis 5fache des oberen Normwertes an. Die Tendenz zum Anstieg der ALT war bei Personen mit schon vorher erhöhten Leberwerten grösser als bei solchen mit normalen Werten. Die Transaminasen nahmen jedoch unter kontinuierlicher Therapie ab und betrugen nach sechs Behandlungsmonaten noch das Doppelte des oberen Normwertes oder weniger. Bei den ALS-Kranken, die über 6 Monate behandelt wurden, kam es auch zu einer deutlichen Verminderung der Asthenie und der Übelkeit. Drei Fälle von Granulozytopenie sind bekannt. Auswirkungen auf Herz und Kreislauf oder auf die Psyche wurden keine beobachtet. Riluzol hat weder ein teratogenes noch ein mutagenes Potential gezeigt.

Interaktionen
Nach den Angaben der Herstellerfirma sind bisher keine klinisch relevanten Interaktionen dokumentiert worden.


Dosierung/Verabreichung/Kosten

Riluzol (Rilutek®) ist als Filmtabletten zu 50 mg erhältlich und bisher nicht kassenzulässig. Die Dosis mit dem besten Nutzen-Risiko-Verhältnis beträgt 100 mg täglich. Im Abstand von etwa 12 Stunden sollte eine Tablette entweder 1 Stunde vor oder 2 Stunden nach den Mahlzeiten eingenommen werden. Patienten mit schweren Lebererkrankungen oder stark erhöhten Leberenzymen sollten kein Riluzol einnehmen. Vor und während der Behandlung sollten die Transaminasen kontrolliert werden, zu Beginn moantlich, nach einem Vierteljahr noch alle drei Monate. Die Harmlosigkeit des Präparates während der Schwangerschaft und der Stillzeit ist nicht gesichert. Auch bei Kindern und Jugendlichen sowie bei Personen mit eingeschränkter Nierenfunktion fehlen bisher Erfahrungen. Bei allen diesen Personen soll deshalb Riluzol nach Möglichkeit nicht verschrieben werden. Eine Behandlung mit einer Tagesdosis von 100 mg Riluzol verursacht monatliche Kosten von 650 Franken.

Kommentar

Riluzol ist zur Zeit das einzige Medikament, das zur Behandlung der amyotrophen Lateralsklerose eingesetzt werden kann. Riluzol verlangsamt die Progression der Krankheit, führt aber nicht zu einer Heilung der ALS. In bezug auf die Überlebenswahrscheinlichkeit liess sich in der zweiten, grösseren Studie nur dann eine statistisch signifikante Wirkung errechnen, wenn die Resultate entsprechend den vorbestehenden Risikofaktoren «korrigiert» wurden. Zudem erbringt Riluzol keinen Nutzen in bezug auf die funktionellen Fähigkeiten. Ob eine möglichst frühe Riluzol-Behandlung die Prognose der ALS-Kranken dennoch verbessert und in einem früheren Stadium der Erkrankung eine längere Unabhängigkeit, ein Hinauszögern der mechanischen Beatmung und infolgedessen eine bessere Lebensqualität gewährleistet, bleibt eine wichtige offene Frage. Andere Medikamente, die mit Glutamat interferieren (z.B. Dextromethorphan oder Lamotrigin), haben im Gegensatz zu Riluzol bei ALS keinen Nutzen gebracht.(5, 6) Die Wirksamkeit von neurotrophen Faktoren (Wachstumsfaktoren) und Antioxidanten wie Tocopherol (Vitamin E) ist noch nicht genügend nachgewiesen.(7)

Literatur

  1. 1) Doble A, Neurology 1996; 47 (Suppl 4): S233-41
  2. 2) Bryson HM et al. Drugs 1996; 52: 549-63
  3. 3) Bensimon G et al. N Engl J Med 1994; 330: 585-91
  4. 4) Lacomblez L et al. Lancet 1996; 347: 1425-31
  5. 5) Askmark H et al. J Neurol Neurosurg Psychiatry 1993; 56: 197-200
  6. 6) Eisen A et al. Can J Neurol Sci 1993; 20: 297-301
  7. 7) Gurney ME et al. Ann Neurol 1996; 39: 147-57

Standpunkte und Meinungen

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Riluzol (13. September 1997)
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pharma-kritik, 19/No. 1
PK349
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