Neue orale Antidiabetika

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If you have a new hammer, every old problem will look like a nail! (Anonymous)

Die Bedeutung einer guten Blutzuckereinstellung für die Reduktion des Risikos, diabetische mikroangiopathische Spätkomplikationen zu entwickeln, ist unbestritten.(1,2) Immer mehr epidemiologische und klinische Daten deuten auch darauf hin, dass mit einer optimalen Blutzuckerkontrolle auch die erhöhte makrovaskuläre Komplikationsrate der Diabeteskranken reduziert werden kann. Trotz dieser Kenntnisse bleiben allerdings Diabetesmorbidität und -mortalität hoch. Dies nicht zuletzt, weil bei einer grossen Zahl der Kranken die allgemein geforderten Ziele für eine gute Diabeteseinstellung (Ziel: HbA1c unter 7%, dringender Handlungsbedarf bei HbA1c über 8%) nicht erreicht werden.

Basierend auf Schätzungen der World Health Organisation (WHO) wird heute angenommen, dass sich weltweit die Diabetesprävalenz bis ins Jahr 2010 verdoppeln dürfte und es wird bis zu diesem Zeitpunkt mit 220 Mio. Diabeteskranken gerechnet.(3) Damit wird das sozio-ökonomische Problem "Diabetes mellitus" in den kommenden Jahren noch weiter an Bedeutung gewinnen. Therapiemodalitäten, welche in der Lage sind, die Inzidenz der Diabetes-assoziierten Komplikationen zu reduzieren, ihr Fortschreiten zu bremsen und derzeitige Therapieschwierigkeiten zu umgehen, sind heute dringend gesucht.

In der Schweiz sind in den letzten Monaten einige neue Antidiabetika verfügbar geworden, die unser therapeutisches Arsenal ganz wesentlich erweitern. Dabei basiert besonders die Wirkung der sog. Glitazone (Insulinsensitizer) und der sog. Glinide (kurzwirkende Insulinsekretagoga) auf pathophysiologisch neuen Prinzipien (siehe Tabelle 1)

Insulinsensitizer

Die Möglichkeit, die Insulinresistenz medikamentös zu beeinflussen, ist faszinierend und erweitert unsere therapeutischen Optionen in eine neuartige Richtung. Zu den neuen Insulinsensitizern gehören Troglitazon, Rosiglitazon und Pioglitazon (= Glitazone). In der Schweiz wurde bisher Rosiglitazon (Avandia®) registriert. In den USA sind Rosiglitazon und Pioglitazon auf dem Markt, während Troglitazon vor kurzem wegen seiner erheblichen Hepatotoxizität zurückgezogen werden musste.

Durch die Verbesserung der Insulinsensitivität wird eine eindeutige Blutzuckersenkung erzielt. In der Monotherapie ist in vielen Studien der Effekt gering (geringer jedenfalls als von den Sulfonylharnstoffen oder von Metformin her bekannt). Direkte Vergleichsstudien mit Sulfonylharnstoffen oder mit Metformin sind noch rar. In diesem Zusammenhang bleibt zu bemerken, dass eine Blutzuckersenkung durch Insulinsensitizer nur bei noch vorhandener Insulinsekretion erreicht werden kann, zumal diese durch die Insulinsensitizer nicht stimuliert wird. Schon nur aus diesem Grund bieten sich die Insulinsensitizer vor allem in frühen Diabetesstadien oder in Kombination mit Sulfonylharnstoffen bzw. mit Insulin an. In den Ländern, in welchen Glitazone schon etwas länger eingeführt sind, werden sie besonders häufig in Kombinationstherapien eingesetzt, obschon diesbezügliche Studien oft noch fehlen.

Die Kosten für die Glitazone sind hoch (nicht nur in Relation zu den vergleichsweise "alten" und damit eher preisgünstigen Sulfonylharnstoffen und Metformin). Unter den unerwünschten Nebenwirkungen werden in erster Linie die Hepatotoxizität (vor allem Troglitazon), eine Erhöhung des LDL-Cholesterins (Rosiglitazon), Ödeme begleitet von Verdünnungsanämie und z.T. gar Herzinsuffizienz (Rosiglitazon) erwähnt. Die Gewichtszunahme beträgt im Durchschnitt etwa 3 kg nach 1 Jahr. In einzelnen Fällen kann ein Gewichtsanstieg mit über 10 kg allerdings massiv ausfallen. Langzeituntersuchungen fehlen naturgemäss noch.

Theoretisch können Insulinsensitizer auch in der Prävention des Diabetes mellitus ein Anwendungsgebiet finden. Eine grosse multinationale epidemiologische Studie mit entsprechendem Screening zur Suche von Risikopersonen mit dysmetabolischem Syndrom (mit Insulinresistenz) und anschliessender (prophylaktischer) Behandlung mit Rosiglitazon ist in Planung und es werden Finanzierungsmöglichkeiten gesucht. Interessant sind in diesem Zusammenhang Untersuchungen bei Frauen mit polyzystischen Ovarien. Dieses Krankheitsbild ist in der Regel begleitet von einer deutlichen Insulinresistenz. Unter Therapie mit Glitazonen kommt es zu einer Besserung der Insulinsensitivität und zum erneuten Auftreten von regelrechten Menstruationen.

Glinide

Repaglinid (NovoNorm®) und Nateglinid (= Glinide) stimulieren die Insulinsekretion in ähnlicher Art wie die Sulfonylharnstoffe. Der induzierte Insulinanstieg erfolgt aber rascher und ist dank relativ kurzer Dauer besser geeignet, den postprandialen Insulinbedarf abzudecken. Das Nebenwirkungsprofil deckt sich mit demjenigen der Sulfonylharnstoffe. Möglicherweise sind die schweren Hypoglykämien etwas seltener und der Gewichtsanstieg unter Therapie etwas geringer. Auch hier fehlen Langzeitstudien.

In den letzten Jahren wurde zunehmend ein Zusammenhang zwischen dem Ausmass der Komplikationen und dem Ausmass der postprandialen Glukosespitzen diskutiert.(4)
Die "Diabetes Intervention Study" beispielsweise zeigte über einen Beobachtungszeitraum von 11 Jahren bei neu entdeckten, relativ gut eingestellten Diabeteskranken, dass ein Zusammenhang besteht zwischen postprandialen Blutzuckerwerten und dem Risiko, einen Myokardinfarkt zu erleiden. Auch mit der Gesamtmortalität fand sich ein Zusammenhang.(5) Sollten sich diese Daten bestätigen, wären Substanzen wie die Glinide (oder auch die a-Glukosidasehemmer und die besonders rasch wirkenden Insulinanaloga) nicht nur wegen der Reduktion des durchschnittlichen Blutzuckers (gemessen am HbA1c), sondern auch wegen des günstigen Effektes auf die postprandiale Glykämie von Nutzen.

Miglitol

Nicht ganz zutreffenderweise wird oft auch der a-Glukosidasehemmer Miglitol (Diastabol®) als "neues" Antidiabetikum angepriesen. Die ältesten publizierten Studien zu dieser Substanz stammen immerhin bereits von 1985! Miglitol scheint keine relevanten Vor- oder Nachteile gegenüber Acarbose (Glucobay®) zu haben. Beide Substanzen vermögen den postprandialen Blutzucker eindeutig zu senken. Eher geringer ist jeweils der Effekt auf das HbA1c. Wenn Miglitol subjektiv gut toleriert wird, darf es sicher eingesetzt werden. Ein therapeutischer Vorteil der a-Glukosidasehemmer könnte in der Reduktion der postprandialen Blutzuckerspitzen und dem möglicherweise damit verbundenen Effekt auf das makrovaskuläre Risiko liegen (vgl. oben).

Zusammenfassend darf man sagen, dass es durch die beschriebenen oralen Antidiabetika möglich geworden ist, den Diabetes mellitus auf neue Art und Weise therapeutisch anzugehen. Bei Therapieschwierigkeiten dürften diese neuen Substanzen rasch grosse Verbreitung finden. Man sollte dabei allerdings nicht vergessen, dass wir für die Therapie mit Sulfonylharnstoffen, Biguaniden und Insulin jahrzehntelange klinische Erfahrungen haben und dass Studien ihren Langzeiteffekt auf die relevanten harten Endpunkte belegen.(2) Dazu sind diese altbewährten Antidiabetika vergleichsweise billig. Bei dieser hohen Kosteneffizienz müsste es für neue, nicht immer sehr potente und z.T. mit fraglichem Nebenwirkungsprofil behaftete Antidiabetika schwierig sein, zu den Mitteln erster Wahl in der Diabetestherapie zu avancieren.

Standpunkte und Meinungen

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Neue orale Antidiabetika (29. Mai 2000)
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pharma-kritik, 21/No. 13
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