Amisulprid

Synopsis

Amisulprid (Solian®) ist ein Neuroleptikum, das zur Behandlung der akuten und chronischen Schizophrenie empfohlen wird.

Chemie/Pharmakologie

Es handelt sich um ein Derivat von Sulpirid (Dogmatil®); Amisulprid gehört damit zur Gruppe der substituierten Benzamide. In Tierversuchen verhalten sich Amisulprid und Sulpirid ähnlich. Im Gegensatz zu anderen Neuroleptika weisen diese Verbindungen keine nennenswerte Affinität zu a-adrenergen, cholinergen oder serotoninergen Rezeptoren auf. In niedriger Dosierung hat Amisulprid insbesondere eine Affinität zum präsynaptischen (stimulierenden) D2-Rezeptor im nigrostriatalen System. In hoher Dosierung bindet es sich dagegen an die D2/D3-Rezeptoren im limbischen System. Die Dopamin-Antagonisierung im limbischen System soll für die Wirkung auf die sogenannten produktiven (positiven) Symptome der Schizophrenie - Wahn, Halluzinationen usw. - verantwortlich sein, die Stimulierung im nigrostriatalen System für die Milderung von negativen Symptomen wie z.B. Apathie, Sprachverarmung, sozialer Rückzug.(lit)

Pharmakokinetik

Nach oraler Einnahme wird Amisulprid offenbar verzögert resorbiert; maximale Plasmaspiegel werden zuerst 1 Stunde und dann nochmals 3 bis 4 Stunden nach der Verabreichung beobachtet. Die biologische Verfügbarkeit beträgt etwa 50%; die Einnahme mit einer kohlenhydratreichen Mahlzeit reduziert die systemische Verfügbarkeit nochmals um die Hälfte. Die Plasmahalbwertszeit beträgt im Mittel 12 Stunden. Wie Sulpirid wird Amisulprid zu einem grossen Teil unverändert über die Nieren ausgeschieden. Die Biotransformation spielt eine untergeordnete Rolle. Bei Personen mit reduzierter Nierenfunktion (auch im Alter) ist mit einer stark verzögerten Ausscheidung bzw. entsprechend höheren Plasmaspiegeln zu rechnen.

Klinische Studien

Amisulprid ist bisher in erster Linie bei Schizophrenie, weniger auch bei depressiven Zuständen untersucht worden. Analog zu Sulpirid werden hohe Amisulprid-Dosen zur Behandlung produktiver Symptome eingesetzt, während bei negativen Symptomen (und bei Depression) niedrige Dosen zum Einsatz gelangen.

Hohe Dosen wurden in einer sechswöchigen Doppelblindstudie bei 191 Personen, die an einer paranoiden Schizophrenie litten, eingesetzt. Die Behandlung erfolgte entweder mit Haloperidol (Haldol®, 20 mg/Tag) oder mit Amisulprid (800 mg/Tag). Als Beurteilungsskalen wurden die BPRS, die CGI und die PANSS verwendet (Abkürzungen siehe Tabelle 1); unerwünschte neurologische Auswirkungen wurden mittels der AIMS (Tabelle 1) beurteilt. Nur Personen, die ein gewisses Minimum an produktiven Symptomen aufwiesen, wurden aufgenommen. 96 Kranke wurden mit Haloperidol, 95 mit Amisulprid behandelt. Beim Auftreten von Nebenwirkungen konnten die Tagesdosen um 25% gesenkt werden. Gegenüber den Ausgangswerten ergab sich nach sechs Wochen sowohl für Haloperidol als auch Amisulprid eine ungefähr gleichwertige Besserung der BPRS- und der PANSS-Scores. In bezug auf negative Symptome war Amisulprid jedoch wirksamer als Haloperidol. Eine Dosisreduktion wegen Nebenwirkungen war bei 15 mit Amisulprid und bei 32 mit Haloperidol Behandelten notwendig.(2)

In einer weiteren Doppelblindstudie bei Personen mit einer akuten Exazerbation einer Schizophrenie und vorwiegend produktiven Symptomen wurden ebenfalls hohe Dosen verglichen. 60 Personen wurden mit Amisulprid (1000 mg/Tag), 62 mit dem Thioxanthenderivat Flupentixol (Fluanxol®, 25 mg/Tag) behandelt. 19 Patientinnen und Patienten der Amisulprid- und 25 der Flupentixol-Gruppe beendeten die sechswöchige Studie nicht, in der Flupentixol-Gruppe signifikant häufiger wegen unerwünschter Wirkungen. Beide Arzneimittel zeigten gegenüber dem Beginn der Studie eine signifikante Besserung auf mehreren Beurteilungsskalen. Es fanden sich keine signifikanten Wirksamkeits-Unterschiede zwischen den beiden Medikamenten.(3)

Wesentlich niedrigere Amisulprid-Dosen sind in Studien eingesetzt wurden, bei denen die Behandlung sog. negativer Symptome der Schizophrenie untersucht wurde. In einer Doppelblindstudie wurden zwei verschiedene Amisulprid-Dosen (100 bzw. 300 mg/Tag) mit Placebo verglichen. Trotz des relativ jugendlichen Durchschnittsalters (32 Jahre) der 104 Kranken bestand die Krankheit durchschnittlich schon seit 10 Jahren. Nur Personen mit mindestens zwei der folgenden Symptome wurden aufgenommen: Spracharmut, Abgestumpftheit, Freudlosigkeit, sozialer Rückzug, Aufmerksamkeitsstörung. Kranke mit deutlichen produktiven Symptomen wurden nicht in die Studie aufgenommen. Nach sechs Wochen zeigten alle drei Gruppen eine Verbesserung auf der SANS. Diese war aber in den beiden Amisulpridgruppen war fast doppelt so gross wie in der Placebogruppe, ein signifikanter Unterschied. Eine Zunahme produktiver Symptome wurde nicht beobachtet.(4)

141 Personen nahmen an einer Doppelblindstudie teil, in der während sechs Monaten Amisulprid mit Placebo verglichen wurde. Auch hier handelte es sich um relativ junge, chronisch Schizophrene, die zwei der oben erwähnten, "negativen" Symptome aufweisen mussten. Vorwiegend wegen fehlender Wirksamkeit waren nach 3 Monaten 57% der mit Placebo Behandelten aus der Studie ausgeschieden, gegenüber nur 29% der Amisulprid-Gruppe. Nach 6 Monaten waren es 68% bzw. 45%, d.h. signifikant weniger aus der Amisulprid-Gruppe. In dieser Gruppe wurden nach sechs Monaten gegenüber Placebo hochsignifikante Besserungen bezüglicher negativer Symptome festgestellt; die Werte auf der Positivskala änderten sich nicht während der Studie.(5)

In einer ebenfalls doppelblinden Studie über ein Jahr ist versucht worden, die niedrigste noch wirksame Dosis von Amisulprid bei der Behandlung der Negativsymptomatik hospitalisierter Schizophrener zu ermitteln. 54 vorwiegend ältere Kranke konnten mehr als 3 Monate lang behandelt werden. Initial wurde eine der vorherigen Neuroleptikadosis entsprechende Tagesdosis von Amisulprid (100 bis 800 mg/Tag) oder Haloperidol (3 bis 20 mg/Tag) verabreicht. Nach jeweils 3 Monaten wurde versucht, die Dosis stufenweise zu reduzieren. Der Behandlungseffekt wurde mit den üblichen Skalen für produktive und negative Symptome gemessen. Nach einem Jahr hatten 22 von 28 Kranken der Amisulprid- und 18 von 26 der Haloperidol-Gruppe den niedrigsten Dosisbereich (für Amisulprid: 100 bis 150 mg/Tag, Haloperidol: 3 bis 4,5 mg/Tag) erreicht. Gegenüber dem Studienanfang musste die Dosis bei 5 Personen der Amisulprid-Gruppe und bei 7 der Haloperidol-Gruppe erhöht werden. Gegenüber dem Studienbeginn ergaben sich weder für die eine noch für die andere Gruppe signifikante Unterschiede bezüglich negativer und produktiver Symptome. Lediglich in bezug auf die Notwendigkeit anticholinergischer Medikamente war Amisulprid signifikant überlegen.(6)

Bei depressiven Zuständen hat sich niedrigdosiertes Amisulprid (50 mg/Tag) in zwei Doppelblindstudien als ähnlich wirksam wie Imipramin (Tofranil®, 100 mg/Tag) bzw. Fluoxetin (z.B. Fluctine®, 20 mg/Tag) erwiesen.(7,8)

Klinische Vergleiche von Amisulprid mit Sulpirid, Clozapin (Leponex®) oder mit einem der neueren atypischen Neuroleptika fehlen praktisch ganz.

Unerwünschte Wirkungen

Die neurologischen Nebenwirkungen von Amisulprid sind gemäss den vorliegenden Vergleichsstudien verhältnismässig gering. Zwar verursacht die Substanz auch gelegentlich extrapyramidale Symptome; diese sind jedoch signifikant seltener als z.B. unter Haloperidol oder Flupentixol.(2,3) So benötigen mit Amisulprid Behandelte auch seltener eine Zusatzmedikation wie Biperiden (Akineton®). Bei Chronischkranken sind Spätdyskinesien (besonders orofaziale Symptome) - z.B. in der erwähnten Jahresstudie - allerdings ebenso häufig wie unter Haloperidol.(6)

Häufiger oder stärker ausgeprägt als unter den klassischen Neuroleptika ist die Hyperprolaktinämie infolge Amisulprid. Vereinzelt kommen klinische Symptome (Galaktorrhoe, Menstruationsstörungen, Impotenz) vor. Amisulprid kann auch zu einer Gewichtszunahme, gastrointestinalen Symptomen (Brechreiz/Erbrechen, Obstipation), Hypotonie, epileptischen Anfällen und (wahrscheinlich selten) zu einer Verlängerung des QT-Intervalls führen. Andere Symptome wie Sedation, Schlafstörungen, Angst und Erregungszustände lassen sich schwierig von den Symptomen der Grundkrankheit abgrenzen. Einzelfälle eines malignen Neuroleptika-Syndroms sowie ein letaler Verlauf nach Überdosierung sind beobachtet worden.


Interaktionen

Amisulprid kann die Auswirkungen anderer zentral wirkender Medikamente (auch von Alkohol) verstärken. Das Medikament wirkt Dopaminagonisten wie Levodopa (z.B. in Madopar®) entgegen.

Dosierung, Verabreichung, Kosten

Amisulprid (Solian®) ist kassenzulässig und als teilbare Tabletten zu 200 mg erhältlich. Bei akuter Exazerbation einer Schizophrenie werden offiziell Tagesdosen zwischen 400 und 800 mg empfohlen. Die Dosis soll individuell (in der Regel nach unten) angepasst werden. Bei alten und niereninsuffizienten Kranken soll Amisulprid zurückhaltend dosiert werden; eine Dosisreduktion ist bereits bei einer leichten Niereninsuffizienz notwendig. Da keine entsprechenden Erfahrungen vorliegen, sollen schwangere und stillende Frauen sowie Kinder unter 15 Jahren nicht mit Amisulprid behandelt werden. Prolaktinproduzierende Tumoren gelten als absolute Kontraindikation.

In einer Dosierung von 600 mg/Tag kostet Amisulprid CHF 323.15 monatlich und ist damit wesentlich teurer als die Substanzen, mit denen es verglichen worden ist. Haloperidol (Haldol®) in einer hohen Dosis von 20 mg/Tag kostet z.B. lediglich 107 Franken pro Monat. Auch Clozapin (Leponex®), die Referenzsubstanz in der Behandlung negativer Symptome der Schizophrenie, und Sulpirid (Dogmatil®) sind im mittleren Dosierungsbereich billiger.

Kommentar

Amisulprid ist offenbar in der Behandlung der akuten Schizophrenie ähnlich wirksam wie die Referenzsubstanz Haloperidol. Von grösserem Interesse wäre jedoch eine überzeugende Dokumentation der Wirksamkeit bei der Negativsymptomatik chronisch Schizophrener. Diese kann nämlich nach wie vor nicht restlos befriedigend behandelt werden, sind doch die verfügbaren Medikamente wie z.B. Clozapin nicht frei von problematischen Nebenwirkungen. Wenn sich allerdings nach einem Jahr als Vorteil gegenüber Haloperidol lediglich eine verminderte Notwendigkeit der Zusatzbehandlung mit Anticholinergika ergibt, so ist dies ein enttäuschendes Resultat. Der therapeutische Stellenwert von Amisulprid wird sich erst genauer definieren lassen, wenn klinische Vergleiche z.B. mit Clozapin vorliegen.

Literatur

  1. 1) Perrault GH et al. J Pharmacol Exp Ther 1997; 280: 73-82
  2. 2) Möller HJ et al. Psychopharmacology 1997; 132: 396-401
  3. 3) Wetzel H. et al. Psychopharmacology 1998; 137: 223-32
  4. 4) Boyer P et al. Br J Psychiatry 1995; 166: 68-72
  5. 5) Loo H. et al. Br J Psychiatry 1997; 170: 18-22
  6. 6) Speller JC Br J Psychiatry 1997; 171: 564-8
  7. 7) Lecrubier Y et al. J Affect Disord 1997; 43: 95-103
  8. 8) Smeraldi E. J Affect Disord 1998; 48: 47-56

Standpunkte und Meinungen

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Amisulprid (7. Dezember 1999)
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