Anticholinerge Medikamente bei Reizblase

Mini-Update

Als «Reizblase» wird ein Syndrom bezeichnet, das durch eine überaktive Blase mit Harndrang, Pollakisurie und Nykturie charakterisiert ist. Diese Symptome sind bei einzelnen Personen von Dranginkontinenz begleitet («overactive bladder wet»). Urodynamisch findet sich eine Detrusor-Überaktivität. Wenn Medikamente eingesetzt werden, handelt es sich meistens um anticholinerg wirkende Substanzen.

Was stand zu diesem Thema in der pharma-kritik?

Anticholinergika wurden 1994 in einem Text über Urin- Inkontinenz besprochen,(1) einige neuere Medikamente (Tolterodin = Detrusitol®, Darifenacin = Emselex®) wurden in den letzten Jahren einzeln ausführlicher dargestellt.(2,3)

Eine neue unabhängige Übersicht zum Thema

Eine Übersicht in der Nummer vom Februar 2006 der Zeitschrift «Australian Prescriber» ist dem Thema der überaktiven Blase gewidmet.(4) Anticholinerge Medikamente können die muskarinischen Rezeptoren blockieren und so die Überaktivität des Detrusors reduzieren. Sie hemmen jedoch muskarinische Rezeptoren auch in anderen Organen und verursachen so – weitgehend dosisabhängig – unerwünschte Wirkungen wie z.B. Mundtrockenheit, Trockenheit der Augen, Obstipation, Schläfrigkeit oder gar Verwirrungszustände, Visusstörungen und eine Zunahme der Herzfrequenz. Neuere Medikamente wurden entwickelt, um eine höhere Selektivität für die M3-Rezeptoren zu erreichen. M3-Rezeptoren finden sich in der Blase, aber auch in den Speicheldrüsen und im Darm.

Gemäss einer systematischen Übersicht der «Cochrane Collaboration » erreichen 45% der Behandelten eine spürbare Besserung ihrer Symptome mit einer Placebotherapie;(5) mit Anticholinergika sind es 60%. Um eine Inkontinenzepisode auf 48 Stunden zu vermeiden, müssen 7 Personen mit einem Anticholinergikum statt mit Placebo behandelt werden (NNT = 7). Es handelt somit nicht um eine sehr wirksame Behandlung.

Die in den klinischen Studien untersuchten Endpunkte werden allerdings als problematisch bezeichnet. Am häufigsten wurde die Miktionsfrequenz und die Zahl der Inkontinenzepisoden erfasst. Das subjektiv störende Symptom des Harndrangs oder die Auswirkungen auf die Lebensqualität der Betroffenen wurden dagegen kaum untersucht.

Wenig Klarheit besteht in Bezug auf relevante Unterschiede zwischen den verschiedenen Medikamenten. Insbesondere weiss man auch nicht, ob sich bestimmte Medikamente eher für Frauen, Männer oder ältere Leute eignen.

Oxybutynin (Ditropan®, Lyrinel® Oros), das – in Australien – bei Reizblase am häufigsten verschriebene Medikament, wird als erste Wahl bezeichnet, da es bezüglich Wirksamkeit und Verträglichkeit für viele genügt und relativ kostengünstig verschrieben werden kann. Es verursacht allerdings sehr häufig eine störende Mundtrockenheit.

Unter Tolterodin (Detrusitol® SR) wird seltener Mundtrockenheit als unter Oxybutynin beobachtet, die Blasenbeschwerden werden aber möglicherweise von letzterem etwas besser beeinflusst. (6)

Trospium (Spasmo-Urgenin® Neo) hat keine selektive Wirkung auf die M3-Rezeptoren, weist aber geringere zentralnervöse Nebenwirkungen auf.

Darifenacin (Emselex®) hat eine hohe Selektivität für M3- Rezeptoren, kann aber dennoch Mundtrockenheit und Obstipation hervorrufen. Bisher ist nicht nachgewiesen, dass Darifenacin wirksamer oder entscheidend besser verträglich ist als andere Anticholinergika.

Ob sich Solifenacin (Vesicare®), das neueste der Medikamente gegen Reizblasen-Beschwerden, in relevanter Weise von den anderen Mitteln unterscheidet, ist noch nicht genügend untersucht worden.

Auch das trizyklische Antidepressivum Imipramin (Tofranil®) wird erwähnt: Dieses weist keine M3-selektive Wirkung auf und kann deshalb dosisabhängig das ganze Spektrum anticholinerger Nebenwirkungen verursachen. Im Einzelfall eignet es sich jedoch für die Behandlung vorwiegend nächtlicher Beschwerden (Nykturie, Enuresis). In der Schweiz ist Imipramin für die Enuresis nocturna, jedoch nicht spezifisch für Reizblasen- Symptome zugelassen.

Bei der Behandlung einer Reizblase steht das Blasentraining im Vordergrund. Es ermöglicht, eventuell zusammen mit relativ niedrigen Dosen von Anticholinergika, in vielen Fällen eine befriedigende Besserung zu erreichen. Besonders bei älteren Leuten empfiehlt es sich, mit kleinen Oxybutynin-Dosen (zweimal täglich 2,5 mg) zu beginnen. Je nach Beschwerden und unerwünschten Symptomen kann die Dosis später angepasst und eventuell eine zusätzliche Dosis am Mittag hinzugefügt werden. Wenn Oxybutynin zu starke Nebenwirkungen hat, bringt gelegentlich der Wechsel auf ein anderes Anticholinergikum den gewünschten Erfolg. Die medikamentöse Behandlung sollte während wenigstens drei bis sechs Monaten durchgeführt werden. 4

Schlussfolgerungen

Die vorliegende Übersicht weist zu Recht auf die wichtige Rolle des Blasentrainings und auch auf die Bedeutung des Placeboeffektes hin. Die Reizblase gehört zu den Beschwerden, die in der letzten Zeit von der Pharmaindustrie hochstilisiert worden sind. Ausgeprägte Symptome seitens einer Reizblase beeinträchtigen die Lebensqualität der Betroffenen zwar unzweifelhaft. In einigen Fällen können Medikamente – in Ergänzung zum Blasentraining und allfälligen weiteren nichtmedikamentösen Massnahmen – gewiss helfen. Die Zahl derjenigen, denen mit Anticholinergika eine wirksame und gut verträgliche Therapie vermittelt wird, ist aber klein.

Zusammengefasst und kommentiert von E. Gysling

Standpunkte und Meinungen

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Anticholinerge Medikamente bei Reizblase (22. August 2006)
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pharma-kritik, 28/No. 1
PK146
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